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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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an die Küste getrieben worden: Bauern, Arbeiter, Fischer sollten sie werden, der Dschungel zu Ackerland, die Wildnis zu einem Garten. Eine Brille! hatte Ho Doeun gesagt, selbst wer bloß eine Brille getragen hatte, wurde verdächtigt, kein revolutionärer neuer Mensch, sondern ein irregeleiteter Städter oder widerspenstiger Kopfarbeiter zu sein, und wurde erschlagen. Wer ertappt wurde, daß er eine Fremdsprache verstand, wie Ho Doeun, der mir von seiner und der Geschichte seines Landes in einem amerikanisch klingenden Englisch erzählte, das er sich an Bord seines Hausbootes in einem Lehrgang auf Kassette beigebracht hatte, war verdächtig, wurde erschlagen. Phnom Penh wurde für Jahre zu einer Geisterstadt, deren menschenleere Straßen, überwucherte Häuser, überwucherte Plätze und Parks an die Wildnis zurückfielen, an Ratten, Rudel verwilderter Hunde, Affenhorden.
    Ho Doeun hatte mir auf unserer Bootsfahrt von den dreizehn zu Tode Gefolterten, Hingerichteten und Verschwundenen seiner Familie erzählt; erzählt von seinem aus Schußwunden blutenden, von den Roten Khmer in einer Schlammgrube lebendig begrabenen Vater; erzählt von seinen mit Bambusprügeln erschlagenen Brüdern und der von Ödemen entstellten Mutter, die inmitten fruchtbarer Reisfelder an den Ufern der fischreichsten Fanggründe dieser Erde verhungerte, weil
Angkar
, die allmächtige Kommunistische Partei Pol Pots, den Anspruch erhob, für alles, alles zu sorgen und den Hungernden, die Wildfrüchte pflückten oder Schnecken und Würmer auflasen, die Verhöhnung der grenzenlosen Fürsorge Angkars vorwarf: ein Verbrechen, das den Beschuldigten in das Foltergefängnis
Tuol Sleng
und von dort nach
Choeung Ek
bringen konnte, einem sumpfigen Ort unweit von Phnom Penh, der in der Chronik der Grausamkeit schließlich als
Killing Fields
geführt werden sollte. In Choeung Ek mußten die
Volksfeinde
am Rand eines Tümpels niederknien und wurden mit Bambusprügeln erschlagen, weil die Roten Khmer ihre der Revolution geweihten Patronen nicht an Abschaum verschwenden wollten.
    Ich hatte die blutbespritzten Wände der Zellen und Verhörräume in Tuol Sleng gesehen und im schwarzen Wasser der Tümpel von Choeung Ek die emporschwebenden und wieder absinkenden Kleiderfetzen der Erschlagenen. Ich hatte in den Tagen auf dem See und Fluß Tonle Sap, dessen wechselnde Strömung alles Leben in und auf dem Wasser hin und her schaukelte wie eine Wiege und doch die Schmerzen der Erinnerung nicht lindern konnte, meine Kleidung gewaschen, im Kehrwasser gebadet und Schlangenkopffische in einem der zahllosen Nebenarme gefangen, auch einen Wels, dessen Farbe dem in Pfahlbautempeln geheiligten
Weiß
so nahe kam, daß Ho mir riet, meinen Fang in die lehmgelbe Flut zurückzuwerfen. Aber lächeln sah ich Ho Doeun in diesen Tagen nur, wenn die Rede auf das bevorstehende Wasserfest kam:
    Unter dem großen Feuerwerk dieses Festes würde er eine mit Lotos und Lichtern beladene Nachbildung seines Bootes in die Wellen des Tonle Sap setzen. Und sein Schiff würde mit Abertausenden anderen, Flammen tragenden Flößen, Schiffchen aus Bananenblättern, Bambus und Seide, davontanzen und so die Strömungsumkehr des Flusses der Khmer in einer Lichterprozession in die Dunkelheit schreiben: ein flackerndes, fließendes Feuerzeichen, daß nichts, weder das Wasser noch die Zeit, noch das durch die Abgründe des Himmels wandernde Leben bloß einer einzigen, für immer festgelegten Richtung folge.

Die Arbeit der Engel
    Ich sah eine mannshohe Mauer, die unter bereiften Bäumen einen weiten Bogen beschrieb. Folgte ich ihrem Verlauf mit meinem Blick, tauchten zwischen schwarzen Stämmen ferne, steile Dächer auf, dann auch der Turm der Martinskirche von Třebíč, einer Stadt im Süden jenes Landes, das damals noch als
Tschechoslowakei
auf den Karten Mitteleuropas erschien.
    Hier entlang und dann weiter bis zu der Kuppe dort oben, dem Hrádek-Hügel, hatte man mir in einer am Flußufer gelegenen Pension gesagt und auf eine bewaldete Anhöhe gezeigt – Pavlik werde gewiß auch heute dort zu finden sein, Pavlik sei doch immer oder fast immer an seiner Mauer. Der werde wohl den Rest seines Lebens dort oben verbringen.
    Tatsächlich war ich eine Stunde später kaum hundert Meter an Pavliks Mauer entlanggegangen, als ich einen alten Mann sah, der mit einer Spitzhacke Steine aus einem von Efeu überwachsenen Trümmerhaufen löste und an eine Bresche in der Mauer trug, die hier wie nach einem Angriff

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