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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Korb durch den Strom der Lebenden flußaufwärts watete, der sich in einem letzten Fluchtreflex vor ihm teilte – Pazifiklachse, würden, anders als die Atlantiklachse, auch in einem regenreichen Herbst und in wasserreichen Flüssen nach dem Laichen ohne Ausnahme sterben und zum Fraß für Bären, Möwen, Adler, Süßwasserfische. In diesem Jahr werde es aber wohl nur dann Nachkommen geben, wenn die oberhalb des Schleierfalls gelegenen Laichplätze von anderen Kämpfern gegen die Strömung erreicht würden, über jenen Fluß etwa, der in einiger Entfernung parallel zu diesem Rinnsal hier verlaufe.
    Für die Jungfische, die irgendwann als Irrläufer über diesen Scheißwasserfall in diesen Scheißfluß geschwemmt würden, sagte der Mann, würde sich diese Route aber unauslöschlich als
ihr
einziger Weg ins Gedächtnis eingraben, ein Weg in den Tod, den sie nach ein paar glücklichen Jahren im Meer wieder zurückschwimmen müßten. Denen könne man für die Heimkehr in diesem seichten Rinnsal hier nur genug Regen wünschen, damit ihnen wenigstens das Glück von Nachkommen beschieden sei.
    Dann beugte er sich über die ineinanderfließenden Ströme der Lebenden und der Toten und warf drei Lachse, die einigermaßen unverletzt erschienen, einen nach dem anderen, aus dem Strom der Lebenden in seinen Korb.

Strömung
    Ich sah das dunkle, schweißnasse Gesicht des Fischers Ho Doeun in einer gewittrigen Novembernacht in Phnom Penh. Die Hauptstadt des Königreiches Kambodscha feierte in dieser Nacht das
Wasserfest
. Ho kniete am Ufer des Mekong unter den Funkensträußen eines Feuerwerks, dessen flammende Bögen und Lichtbrücken den Strom zwei, drei Herzschläge lang überspannten, bevor sie in einem donnernden Farbenspiel erloschen.
    Ich sah den Widerschein des Feuerwerks auf den Schweißrinnsalen, die Ho über Stirn und Wangen krochen, und empfand diese Spuren als Zeichen, daß dieser Mann aus einem Wasserreich kam, zum Wasser gehörte und ans Wasser gebunden blieb wie der zerspringende Spiegel des Mekong, der die Figuren des Feuerwerks in Lichtsplittern und gebrochenen Blitzen in den Nachthimmel zurückwarf.
    Ich saß als einer von Hunderttausenden, die das Feuerwerk am Strom bewunderten, auf den Stufen jener Freitreppe, die aus den Palmpromenaden vor dem Königspalast zu den Landestegen am Stromufer hinabführte: Ho setzte ein Schiffchen aus Bambus und Bananenblättern behutsam ins Wasser, schob es behutsam in die Strömung und hielt seinen Arm wie schützend ausgestreckt, während er reglos verfolgte, wie das mit flackernden Wachslichtern und Lotosblüten befrachtete Gefährt stromabwärts trieb, von einem trägen Strudel erfaßt wurde, kenterte und kieloben in der Finsternis verschwand.
    Erst jetzt ließ er seinen Arm sinken, erhob sich und verbeugte sich dankbar vor der Flut. Der Mekong hatte sein Opfer angenommen – eine maßstabgetreue Nachbildung jenes mit Wellblech und Palmblättern gedeckten Hausbootes, auf dem ich in den vergangenen drei Tagen den größten See Kambodschas als Ho Doeuns Passagier befahren hatte.
    Das Wasserfest. Was immer Ho Doeun in unseren gemeinsamen Tagen an Bord seines Hausbootes von seinem Leben erzählt hatte, schien untrennbar mit diesem Fest verbunden. Immer wenn eine Erinnerung ihn zu tief in die Abgründe seiner Vergangenheit führte, hatte er von diesem Fest zu schwärmen begonnen – von den Bootsrennen, von den Hunderttausenden an Uferpromenaden oder an Bord vertäuter Kähne und Einbäume versammelten Zuschauern, von den Figuren des Feuerwerks … so, als ob die vielstimmige Begeisterung und alle Lichter des Wasserfestes allein dem Zweck dienten, die Vergangenheit zu übertönen und zu überstrahlen. Gefeiert wurde in dieser Novembernacht schließlich nicht nur der Anbruch einer neuen Jahreszeit, sondern die
Umkehr
eines Stromes:
    Der Monsun hatte die Pegelstände der Seen und Ströme Kambodschas um zehn, zwölf Meter steigen lassen, hatte Dörfer in Inseln, die Pfahlbauten der Reisbauern in Archen verwandelt, Straßen in unterspülte Dämme und Teakholzforste in versunkene Wälder, in deren Kronen Algenfahnen wehten. Mehr als ein Drittel des Landes war in diesen Monaten nach den Gesetzen einer mit Regengongs und Gebeten beschworenen und mit der Ganggenauigkeit einer Sonnenuhr steigenden und fallenden Flut versunken, ohne deren Schlamm auf den Weiden kein Gras für die Wasserbüffel- und Zebuherden und auf den von Lehmdämmen gefaßten Feldern kein Reis wachsen würde, ja

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