Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
Vom Netzwerk:
klaffte. Der Alte war offensichtlich dabei, diese Lücke wieder zu schließen. Ein Holzgerüst, das die Öffnung bereits verbarrikadierte, ließ den Blick aber immer noch frei auf lange Reihen überwucherter Gräber und Grabsteine, manche von ihnen noch aufrecht, andere gestürzt, umgeworfen oder bereits tief eingesunken in den gefrorenen Grund.
    Ja, sagte der Alte, Bohumír Pavlik, das bin ich, und legte noch einen Stein an das Holzgerüst, bevor er sich die erdigen Hände an einem von Eisnadeln glitzernden Grasbüschel abwischte.
    Ich hatte in Třebíč gar nicht nach Pavlik gefragt, den Namen hatte ich in meiner Pension zum erstenmal gehört, sondern nach dem jüdischen Friedhof, der seit mehr als vierhundert Jahren hinter einem Hügel außerhalb der Stadt lag, aber der alte Mann
war
dieser Friedhof, zumindest in den Augen seiner Mitbürger.
    Nein, Pavlik war kein Jude, aber als ehemaliger Lehrer, der sich tagtäglich um
mehr Licht
in den Köpfen der nächsten Generation bemüht hatte, war er auch kein Freund der Kommunisten, die das Land damals noch beherrschten und alles, was ihren Verstand überstieg oder ihren Glaubenssätzen widersprach, einfach aus der Welt schaffen wollten. Und als die Gerüchte nicht verstummten, daß dieser Friedhof geschleift und zu Bauland zerstampft werden sollte, hatte Pavlik in seiner Empörung den Entschluß gefaßt, sich dieser Wildnis hier anzunehmen, in der niemand mehr begraben worden war, seit die letzten Třebíčer Juden, fast dreihundert Menschen, in Viehwaggons in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt worden waren. Nur zehn von ihnen hatten die Schreckensjahre überlebt. Und keiner von ihnen war jemals wieder in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Wer sollte also diesen gottverlassenen Ort vor Wildtieren, vor Hunden, Grabschändern, vor der Zerstörungswut der Kommunisten und schließlich der Zeit selbst schützen?
    Viel hatte Pavlik damals vom Judentum ja nicht gewußt – aber das Gesetz hatte er doch gekannt, nach dem einem Toten jenes Stück Erde, in das man ihn gebettet hatte, bis ans Ende der Zeit bewahrt werden sollte. Wer auf einem jüdischen Friedhof seine Auferstehung erwartete, dessen Grab wurde selbst am Ende seines Stammbaumes nicht aufgelassen wie auf christlichen Kirchhöfen, wo man die Knochen von
Umgebetteten
in Beinhäusern stapelte und die geleerten Gräber, die einen Menschen bis zum Jüngsten Tag hätten bergen sollen, einem anderen Toten und seinen zahlenden Nachkommen zusprach.
    Pavlik hatte damals – fünfzehn, nein: sechzehn Jahre sollten seither schon wieder vergangenen sein? – ohne lange zu fragen begonnen, die alte Steinmauer um den Friedhof wiederzuerrichten, auf dem im Verlauf der Jahrhunderte mehr als elftausend Menschen ihre Ruhe gefunden hatten: eine eineinhalb Kilometer lange Mauer, von der an vielen Stellen nicht mehr zu sehen gewesen war als von den Grabsteinen, die er zu Hunderten und Aberhunderten mit eigenen Händen von Wurzeln und Dickicht befreit und aus dem Verborgenen wieder ans Licht gebracht hatte. Denn wenn es schon keine Verwandten und Nachkommen mehr gab, die den Toten Steine aufs Grab legten, um zu zeigen, daß man an sie dachte, sie immer noch liebte oder zumindest noch nicht vergessen hatte, dann sollte im Schutz dieser Mauer zumindest Ruhe herrschen, Geborgenheit, jedenfalls solange er, Pavlik, noch lebte. Er wurde in diesen Tagen achtzig Jahre alt.
    Die Kiesel, die ich auf vielen Gräbern sah, die hatte alle er dorthin gelegt, und ich solle doch jetzt meine Handschuhe ausziehen und auch ein paar Kiesel auf die Gräber legen, Steine zählten hier mehr als Blumen und erinnerten noch an biblische Zeiten, in denen eine Grabstätte mit Steinen beschwert und so vor dem Hunger von Aasfressern und den Sandstürmen eines Heiligen Landes geschützt werden mußte.
    An den meisten Tagen seiner oft schweren Arbeit war Pavlik hier oben so allein gewesen wie heute, an diesem Wintertag, an dem es so kalt war, daß er keinen Mörtel anrühren, sondern nur diese moosigen alten Mauersteine bereitlegen konnte, aber gerade dadurch hatte dieser Friedhof, hatten die Toten selbst nach und nach begonnen, zu ihm zu sprechen, ja, zu ihm, und er hatte ihre Sprache und ihre Schrift allmählich verstehen gelernt, oft war es mühevoll, aber so waren ihm ein Mensch nach dem anderen, an deren Leben neben deutschen und tschechischen vor allem hebräische Inschriften erinnerten, sozusagen auferstanden – Liebende, die in den Tagen der

Weitere Kostenlose Bücher