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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Pest für immer voneinander lassen mußten, eine junge Mutter, die Zwillingen das Leben geschenkt und dabei ihr eigenes verloren hatte, ein Arzt, der von der Cholera besiegt worden war … Mittlerweile kam es ihm manchmal vor, als seien ihm die hier Begrabenen vertrauter und näher als viele Bürger der Stadt.
    Wenn es ihm gelang, wieder eine der hebräischen Inschriften zu übersetzen, schrieb Pavlik sie in einer langsamen, schönen Schrift in ein Notizbuch, das er in der Brusttasche seiner Jacke immer bei sich trug. Eine der ersten Seiten seiner Sammlung schmückte ein Brief, den er auf dem Grabstein der Frau eines Kürschners gefunden hatte:
    Liebste
    Du bist vergangen
    Wie der hellste aller Tage
    Aber auch die Nacht
    Die unserem Abschied folgte
    Wird vergehn
    Aber ja, natürlich hoffte er immer noch, daß die Zeiten sich auch in Třebíč allmählich ändern und wieder heller werden würden. Vielleicht dachte man ja auch in den Parteibüros bereits daran, diesen Ort der Ewigkeit, anstatt ihn zu zerstören, für den Fremdenverkehr zu erschließen, schließlich war der Třebíčer jüdische Friedhof neben dem in Prag einer der größten des Landes und konnte für den einen oder anderen Freund der Vergangenheit zu einem lohnenden Ziel werden, das ihn irgendwann in die Pensionen und Gasthäuser der Stadt führen mußte. Aber solche Überlegungen kümmerten Pavlik schon lange nicht mehr. Er baute unbeirrt weiter an seiner Mauer und hörte manchmal nur noch die vielen Stimmen, die sich in ihrem Schutz erhoben.
    Die schönsten Worte, die er in den vielen Jahren seiner großen Arbeit entdeckt hatte, waren allerdings nicht in den Stein geschlagen, sondern mit Silberfäden auf ein schwarzes Samttuch gestickt, das er eines Tages aus dem Schutt gezogen hatte. Mit solchen Tüchern waren einst die Bahren bedeckt und die Toten so auf Worten, auf einem Psalm, zu Grabe getragen worden. Es hatte ihn viel Mühe gekostet, bis er diese silberne Schrift entziffern konnte, und er war, ja, glücklich gewesen, als er sie endlich zu verstehen glaubte, denn was da auf dem Samt glänzte, galt wohl für die Lebenden
und
für die Toten:
    Er hat seinen Engeln befohlen
    Dich zu behüten
    Wohin du auch gehst
    Wohin du auch gehst, auf allen Wegen, selbst auf dem einen, dem letzten. Als Pavlik sich irgendwann zu fragen begann, ob denn auch die Třebíčer Juden in ihren Viehwaggons von diesen Engeln behütet worden waren, hatten ihn Zweifel gequält, und er erwehrte sich nur mit Mühe des Gedankens, daß selbst der Allmächtige ein Versprechen brechen konnte oder einfach vergessen hatte, seinen Engeln zu befehlen … seinen Engeln, die dann an den Wegen nach Theresienstadt und in die Vernichtungslager schweigend und tatenlos Spalier standen. Hatte denn ein anderer allmächtiger Gott nicht sogar seinen eigenen Sohn ans Kreuz nageln lassen, ohne die himmlischen Heerscharen gegen die Verblendung, Bösartigkeit und Grausamkeit seiner Geschöpfe ins Feld zu führen?
    Aber dann, nach einer langen Zeit des Haderns und der Enttäuschung, in der er einfach an seiner Mauer weiterbaute, immer weiter, hatte Pavlik endlich begriffen, was wirklich auf dem Bahrentuch geschrieben stand: daß es nämlich den Menschen aufgegeben war, den Sterblichen,
    Dich zu behüten
    Wohin du auch gehst
    und so die Arbeit der Engel zu tun.

Im Säulenwald
    Ich sah einen Wanderer in einem Säulenwald. Er ging wenige Meter vor mir auf einem Holzsteg, der die schwarze, spiegelglatte Wasserfläche überbrückte, aus der die Granit- und Marmorsäulen dieses Waldes zu Hunderten aufragten. Manchmal blieb er stehen, beugte sich über das Geländer des Stegs und schien flüsternd zu fleckigen Goldfischen und monströsen Schuppenkarpfen zu sprechen, die träge zu seinen Füßen dahinschwammen und mit ihren Flossenschlägen die Glätte des Wasserspiegels da und dort durchbrachen, als bestünde ihre einzige Aufgabe in der Vorführung, daß der Boden dieses Säulenwaldes tatsächlich flüssig war, Süßwasser war und nicht aus schwarzem Glas. Manchmal blieb der Mann auch dicht vor einer der Säulen stehen, sah zu einem korinthischen oder ionischen Kapitell und den darauf ruhenden Gewölbebögen wie zu einer Baumkrone hoch, in der sich Vögel oder andere scheue Wesen verbargen, und sprach flüsternd auch mit ihnen.
    Es war dunkel. Allein der rotgoldene Widerschein einer Reihe kunstvoll verborgener Lampen, der den Marmor und Granit der Säulen wie glühende Baumrinde aussehen ließ, erhellte

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