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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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den Holzsteg und das auf dem Wasser ruhende Spiegelbild eines Kreuzgewölbes, dessen unzählige Bögen sich nach allen Richtungen im Dämmerlicht verloren.
    Es war still. Das Geflüster des Wanderers vor mir und selbst einige ferne, gedämpfte Stimmen vom Ende einer Säulenflucht schienen diese Stille nicht zu stören, sondern noch zu vertiefen. Nur wenige Besucher waren an diesem Novembertag in das hallende Dunkel der
Yerebatan-Zisterne
hinabgestiegen, dem – wie ein Plakat an jener Treppe verhieß, die aus der Oberwelt ans schwarze Wasser hinabführte – bedeutendsten unterirdischen Bauwerk der an Gewölben, Kellern, Verliesen, Zisternen, Gängen, Tunnels, Gruften und Brunnenschächten so reichen türkischen Metropole Istanbul.
    Ankömmlinge in dieser Unterwelt wurden an normalen Öffnungstagen von Musik empfangen, von sanften, symphonischen Klängen, die sie um eineinhalb Jahrtausende und vielleicht weiter zurücktragen konnten, bis in die Tage des Bauherrn dieses Wasserpalastes, der als
Justinian
im sechsten Jahrhundert vom Bauernsohn zum römischen Imperator aufgestiegen war. Justinian hatte damals eine bereits zweihundert Jahre vor seiner Herrschaft ausgeschachtete Zisterne zu ihrer bis in die Gegenwart unveränderten Größe erweitern lassen: Achtzigtausend Tonnen Wasser, gespeichert unter einem von dreihundertsechsunddreißig, jeweils acht Meter hohen Säulen getragenen Gewölbe, sollten das Herz des oströmischen Imperiums, die kaiserlichen Gärten, Wasserspeier, Brunnen und Bäder, selbst in Zeiten der Dürre wie in denen des Kriegs durchfluten und jedem Feind und Belagerer der Stadt vorführen, daß der Boden byzantinisch-römischer Macht niemals verdorren würde. Aber selbst wenn der Wasserspiegel unter dem Durst des Palastes sank und sank und eine hallende Dunkelheit größer und größer werden ließ, sollte sich nicht der Mangel zeigen, sondern nur jene bis dahin geflutete Pracht, die dieser Zisterne den schönsten ihrer vielen Namen der Bewunderung eingetragen hatte:
Versunkener Palast
.
    An diesem Novembertag war der Lärm der Oberwelt aber mit jedem Schritt, den ein Besucher über die Treppe in die Tiefe stieg, leiser geworden, schließlich verhallt und dann aber von keiner Musik ersetzt worden. Vielleicht wegen einer Störung am Tonsystem oder bloß weil die geringe Zahl der Besucher symphonische Klänge nicht verdiente, blieb es still. Und so war es wohl die gleiche, nur vom Aufschlaggeräusch der Sickerwassertropfen aus dem Gewölbe manchmal durchbrochene Stille, wie sie hier gewiß an den allermeisten Tagen der vergangenen eineinhalb Jahrtausende geherrscht hatte, die das Flüstern des Wanderers vor mir unüberhörbar machte. Hier unten hatte stets ein Flüstern ausgereicht – selbst wenn in der Oberwelt Breschen geschlagen, Stadtmauern erstürmt und Paläste geplündert wurden oder, wie an diesen Novembertagen, die Bomben eines Selbstmordattentäters detonierten.
    So still wie jetzt mußte es hier auch in jenem Mai des Jahres 1453 gewesen sein, in dem Mehmet  II ., der
Unbesiegbare
,
der
Herr der Horizonte
, ein Jüngling im dritten Jahr seines Sultanats, Konstantinopel, die Metropole der Christenheit, mit einem Heer von einhundertfünfzigtausend Mann zur tosenden Musik der Pauken, Posaunen, Zimbeln und Pfeifen der Blutorchester erobert und der Stadt einen neuen Namen gegeben hatte.
    Es hieß, Mehmet, die
Faust Allahs
, des einen und wahren Gottes, wollte mit diesem neuen Namen den ängstlichen Klang jenes Schreies verhöhnen, mit dem die griechischen Untertanen Konstantinopels in den nun vergeblich überstandenen Jahrhunderten der Kriege gegen den Islam die Frage nach dem Ziel ihrer Flucht stets beantwortet hatten:
Is tin polin!
In die Stadt! Und es hieß auch, Mehmet, der
Held der Welt
, der das Arabische, Lateinische und Griechische ebenso sprach wie das Hebräische und die Sprache der Perser, habe diesen Schrei nicht bloß verhöhnt, sondern in ein Wortspiel verwandelt, als er die Ruinen und Leichenfelder, die nach der Erstürmung der mächtigsten Mauern der Welt vor ihm brannten,
Is-tan-bul
nannte.
    Still, gewiß, so still wie jetzt mußte es hier unten gewesen sein, während Mehmet, dort oben, im Licht der Sonne des einen und wahren Gottes alles, alles verwandelte: die
Hagia Sophia
, die größte Kirche des Morgenlandes, in die größte Moschee der Welt und eine Hauptstadt der Christenheit in das Herz des Osmanischen Reiches. Und Mehmet hatte schließlich sogar gezeigt, daß er

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