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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Geld anderer Leute!, keine Wucherzinsen, keine Blutsaugerei an den Adern der Arbeit, nein, denn die Lotterie!, die Lotterie führe nicht durch den Sumpf der Banken zum Reichtum, sondern auf direktem Weg in ein Glück, das so gerecht war wie sonst nur der Tod und keine Unterschiede des Standes, der Rasse oder der Herkunft kannte. Ein Los konnte schließlich noch für den Ärmsten zum Ausweg, Fluchtweg werden in eine hellere Welt – ob
Revancha
,
Gana Gana
,
Noche
oder
Boleto
, jede noch so bescheidene Spielform der Lotterie war redlicher als alle in diesen Geldbunkern betriebenen Spekulationen auf Kosten der Menschheit! Ein Los – und dazu raschelte er mit seinen papierenen Girlanden – war ein Gutschein, zumindest für einen beglückenden Traum, den man Woche für Woche, Tag für Tag und bis zum Herzschlag in der Sekunde der Ziehung mit allem Recht träumen durfte, den Traum von einem gerechten Reichtum, um den man hinter diesen Fassaden und Portalen tagtäglich betrogen wurde. Selbst ein blindes Los war noch besser als ein sogenanntes
Wertpapier
irgendeiner
Banco Soundso
, stand doch hinter jedem Los ein atmender, träumender Mensch, ein Spieler, bereit, mit seinem Einsatz von einigen Pesos für das Glück eines anderen zu zahlen, immer aber auch in der Hoffnung, aus den Händen seiner Mitspieler vielleicht das eigene Glück zu empfangen. Und floß darüber hinaus nicht der breiteste Geldstrom aus dem Meer der Lotterie der Gemeinschaft aller Menschen zu?, dem Staat, der Nation und diente so dem Wohl des Einzelnen
und
dem seines Landes? Welche Bank, verflucht, wagte das von ihren Geldströmen zu sagen?
    Von den wenigen Sonntagsspaziergängern oder Passanten, an denen der Losverkäufer vorüberkam – einem älteren Paar, dem ein grauhaariger Spaniel hinterhertrottete, einer Frau mit einem Mädchen in einem blaßrosa Kleid an der Hand und einem Marinesoldaten, der offensichtlich von seinem Dienst auf einem der Kriegsschiffe, die in der weiten, glitzernden Bucht vor der Stadt lagen, zum Landgang beurlaubt worden war und einen großen, in Zellophan gewickelten Blumenstrauß trug –, hörten einige dem Losverkäufer zwar zu oder drehten sich nach ihm um, aber keiner blieb bei ihm stehen; keiner kaufte ein Los. Allein das Mädchen an der Hand der Frau schien fasziniert vom Singsang dieses Mannes, zeigte auf seine Papiergirlanden, als er an ihnen vorüberging, wollte ihm nach und ließ sich nur widerwillig in die Gegenrichtung ziehen.
    Ich folgte dem Losverkäufer in schrumpfendem Abstand bis zur Einmündung der Schattenstraße in die sonnenhelle Weite der Plaza Sotomayor, holte ihn dort ein und wollte, mehr aus Mitleid als aus Überzeugung, endlich eine der von ihm gepriesenen Chancen nützen und ein Los kaufen. Aber der Sänger streifte mich nur mit einem flüchtigen Blick und kümmerte sich nicht um den Zehntausend-Peso-Schein, den ich ihm entgegenstreckte, sondern ging singend und raschelnd an mir vorüber und weiter dem himmelblau gestrichenen Hauptquartier der chilenischen Marine entgegen, das die Plaza beherrschte. Dort drängten gerade die Passagiere dreier Reisebusse ins Freie und zielten mit ihren Digitalkameras nach allen Himmelsrichtungen, darunter auch in jene, aus der sich ihnen der Losverkäufer näherte, ein Girlandenmann. Er ging, ungerührt und ohne in seinem Singsang innezuhalten, weiter, wurde fotografiert und wieder und wieder fotografiert, ohne daß er auch nur eine Sekunde innehielt, und war, als sich ein vierter Bus rangierend in mein Blickfeld schob und daraus langsam wieder zurückzog, verschwunden.
    Einer der fliegenden Händler, die sich mit dem Scharfblick von Jägern um die Buspassagiere bemühten, hatte wohl bemerkt, daß ich dem Losverkäufer gefolgt war und nun, überrascht von seinem plötzlichen Verschwinden, nach ihm Ausschau hielt. Er kam auf mich zu, bot mir mit strategischer Zurückhaltung zunächst aber keinen seiner Stadtpläne und keine günstige Führung durch die Schönheiten Valparaísos an, sondern eine Geschichte:
    Salva, der Mann mit den Papiergirlanden, wolle niemandem etwas verkaufen, schon gar keine Lose. Was der da um den Hals trug, das waren alles Lose, mit denen er selber hatte reich werden wollen, Nieten, im Verlauf von Jahrzehnten gesammelt und aufgefädelt. Dabei habe er es einmal sogar geschafft. Beinahe geschafft. Sein Los hatte gewonnen! Aber als er es am Morgen nach jener Nacht, in der er seinen Fahrschein ins
paraíso
der halben Stadt gezeigt und jede

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