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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Zahl, jeden Buchstaben auf diesem Zettel so oft gesagt, gerufen, gesungen hatte, daß alle diese Glückszeichen wie eintätowiert in seinem Gedächtnis bleiben mußten … als er diesen Zettel also vorzeigen wollte, um die Ansprüche auf seinen Gewinn rechtskräftig werden zu lassen, da war das Los verschwunden. Verschwunden, verloren, ins Meer geschwemmt, davongeflattert, von einem Neider gestohlen oder in irgendeinem Müllfeuer verbrannt.
    So ganz richtig im Kopf sei Salva, den seine Mutter nach dem ermordeten Präsidenten Salvador Allende, dem größten Sohn Valparaísos, getauft hatte, ja nie gewesen, aber seit diesem Verlust fädle er alle seine Lose, Nieten oder nicht, auf eine Schnur und trage sie um den Hals. Und führe laute Selbstgespräche über das Glück.
    Worüber Salva denn heute gesprochen habe, fragte mich der fliegende Händler, von dem ich noch erfahren sollte, daß er, wie viele Taxifahrer, Gärtner oder Diener in Chile, aus Peru kam, aus Lima, aber mittlerweile den größten Teil seines Lebens in Valparaíso verbracht hatte und in diesem
Paradiestal
wohl auch sterben werde. Die Banken?, über die Banken hatte er gesprochen? Dann sollte ich erst einmal hören, was Salva über das Glück und den Pazifik zu sagen hatte. Hatte ich davon schon gehört? fragte der Peruaner und fragte endlich auch, ob er mir den Hafen zeigen solle. Oder den Sonntagsmarkt? Oder wollte ich eine Rundfahrt machen über die schönsten Hügel der Stadt, den Cerro Alegre, den Cerro Concepción? Oder war mir die Nordseite der Bucht lieber?, wollte ich hinüber nach Viña del Mar, nach Viña del Mar!, zu den Gärten der Reichen. Und auf der Fahrt dorthin vielleicht noch andere von Salvas Geschichten hören?
    Das Glück und der Pazifik. Das Glück und der Stille Ozean. Mein Schiff sollte am späten Abend mit Kurs auf die Juan-Fernández-Inseln auslaufen. Bis dahin blieben noch mindestens fünf Stunden Zeit. Ja, von diesem Glück wollte ich mir erzählen lassen. Also gut, sagte ich, nach Viña del Mar, zu den Gärten.

Die Regeln des Paradieses
    Ich sah eine schwarze Ziege am Rand eines von Schilfgras überwucherten Tennisplatzes in Adamstown, der einzigen Siedlung der Südseeinsel Pitcairn. Ich war auf meiner Umwanderung der Insel über einen bewaldeten Höhenzug auf eine Lichtung und diesen Platz geraten. Die Ziege versuchte panisch vor mir zu flüchten, als ich aus dem Dickicht auf den rissigen Betonbelag trat, war aber mit einem Strick an eine Laufleine gebunden, die sich entlang einer verblaßten Grundlinie des Spielfeldes spannte. So glich ihr Fluchtversuch dem rasenden Hin und Her eines Spielers auf der Jagd nach den Bällen eines Phantomgegners. Das Tier hetzte von einem Ende der Laufleine zum anderen, wurde, wenn der Strick sich plötzlich straffte, immer wieder zurück- und auf die Hinterbeine gerissen, zerrte vergeblich an der Fessel. Ein Eisenring, der Laufleine und Strick miteinander verband, schlug dabei immer wieder klingelnd auf den Beton.
    Da ich annahm, daß dieses Klingeln auch den oder die Bewohner jenes weißen Bungalows, der am Rand des Spielfeldes zwischen Papaya- und Brotfruchtbäumen stand, auf mich aufmerksam machen würde, rief ich einen Gruß gegen das Haus, gegen eine offene Verandatür und die mit Fliegengittern bespannten Fenster. Durch die Türöffnung waren ein sonnenbeschienenes Bücherregal zu sehen, ein Tisch, auf dem Holzlocken und Werkzeuge lagen, die ich für Hohleisen und Schnitzmesser hielt. Vor dem Bücherregal stand ein leerer Rollstuhl. Aber ich hörte keine Erwiderung meines Grußes und über dem Klingeln des Eisenringes nur Blätterrauschen.
    Das Spielfeld war ohne Netz, aber an der Mittellinie erhob sich immer noch ein Schiedsrichterstuhl über die Schilfgrasbüschel. Die Sprossen der an den Hochstuhl genagelten Holzleiter waren durchgetreten, als hätte ein schwergewichtiger, vielleicht wütender Referee das letzte Match beendet.
    In Zeiten, in denen hier noch um Punkt, Satz und Spielgewinn gekämpft worden war, hätte auch der schlechteste Aufschläger wenigstens Anspruch auf den Rekord erheben dürfen, seine Bälle auf einem der entlegensten und am schwierigsten zu erreichenden Plätze der Welt ins
Out
gesetzt zu haben:
    Mehr als fünftausend Kilometer waren es von hier bis Neuseeland und fast sechstausend Kilometer bis zur südamerikanischen Küste. Durch die Leere dazwischen rollte allein der Pazifik, dessen Sturmwellen und selbst bei Windstille oft haushohe Dünung auf allen

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