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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Routen nach Pitcairn von keiner Festlandbarriere gebrochen wurden. Es war die Hochsee, die donnernd gegen die ragenden Klippen und Felswände Pitcairns schlug und jede Anlandung zu einem gewagten – und für Inselbewohner, die nicht tagelang auf ein ruhiges Meer warten konnten, wenn sie von einem Fischzug heimkehrten –, oft lebensgefährlichen Manöver machten.
    Aber weil es auf Pitcairn seiner verlorenen Lage und seiner Schroffheit wegen weder eine Flugpiste noch einen Hafen gab, waren Rettungsboote oder
Longboats
, massive, offene Langboote aus Aluminium, immer noch die einzigen Fahrzeuge, mit denen sich Passagiere eines weit draußen, in sicherer Entfernung von den Klippen und dort über einer Meerestiefe von dreitausend Metern auf Reede liegenden Schiffes diesem felsigen Land nähern konnten. Aber auch wer diese nur viereinhalb Quadratkilometer große Insel nach einer langen Seereise endlich erreichte, war noch längst nicht angekommen, sondern mußte warten, manchmal stundenlang, manchmal tagelang auf ein gnädiges Meer, das ihm eine Landung erlaubte.
    Die berühmtesten und berüchtigtsten Ankömmlinge vor Pitcairn, die Meuterer von der bewaffneten Dreimastbark
Bounty
, hatten mehr als drei Tage vor dieser hochragenden Felsenküste gewartet, bis sie ihr Beiboot an den felsigen Strand setzen konnten. Wir, Passagiere auf einer zehntausend Kilometer langen, von der chilenischen Küste über neun bewohnte und unbewohnte Inseln der Südsee bis in den Tuamotu-Archipel und nach Tahiti führenden Schiffsreise, hatten mehr Glück. Trotz einer verhältnismäßig ruhigen See konnten uns nach bloß zwei Stunden des Wartens auf sanftere Wogen aber nicht die eigenen Matrosen, sondern erst einige über Funk um Hilfe gebetene Pitcairner in einem ihrer Langboote von unserem krängenden Schiff zum Landgang übersetzen.
    Achtundvierzig Menschen lebten zur Zeit unserer Ankunft an einem sommerlich heiteren Märztag noch auf Pitcairn, und viele von ihnen hatten sich an der von Brechern blank gespülten Mole versammelt, um uns zu grüßen. Unser Schiff war das erste seit Monaten, das erste in diesem Jahr.
    Young, McCoy, Brown, Christian … Unter denen, die sich vor dem Bootsschuppen an der Mole oder später vor den verstreuten Holzhäusern oder auf dem kleinen, schattigen Dorfplatz vorstellten, trugen viele immer noch die Familiennamen der Meuterer und sagten manchmal stolz dazu, in welcher Generationsfolge sie von einem
Able-bodied Seaman
, einem Vollmatrosen des Meutererschiffs, einem
Midshipman
, Seekadetten, oder auch dem
Master’s Mate
und
Acting Lieutenant
, jenem als Zweiten Offizier an Bord der Bounty wie auf Pitcairn kommandierenden Fletcher Christian, abstammten, den ein Jahrhundert nach dem tödlichen Ende des Dramas auch Filmhelden mit Namen wie Clark Gable, Marlon Brando oder Mel Gibson vergeblich wieder zum Leben zu erwecken versucht hatten.
    Durchnäßt von der Gischt, war ich den steilen Weg von der Mole hinauf zum Dorfplatz und zum
Post Office
gegangen, in dem ein Brief manchmal Monate auf seine Weiterbeförderung warten mußte, und wollte unterwegs in
Christian’s Café
nach der panoramareichsten Route für eine Umwanderung der Insel fragen. In einem als Gaststube dienenden Wohnzimmer hatte ich aber nur einen Fregattvogel vorgefunden, der, groß wie ein Adler, auf der Armlehne eines Schaukelstuhls saß. Ich hielt den Vogel für ausgestopft und erschrak, als er mir plötzlich den Kopf zuwandte. Er öffnete stumm seinen langen Hakenschnabel, als die Wirtin mit einem Mädchen auf dem Arm aus dem Dämmerlicht der Küche in den Raum trat: Mrs. Christian. Uralt, sagte sie, der Vogel sei uralt und seit dreiunddreißig Jahren Gast in ihrem Haus. Aber anders als ein Bewohner von Adamstown könne der die Insel nach Belieben verlassen, manchmal für Wochen, manchmal für Monate. Bisher sei er allerdings – wie viele irgendwann ausgewanderte und dann vom Heimweh geplagten Pitcairner übrigens auch – immer wieder zurückgekehrt.
    Mrs. Christian, auch sie eine der vielen Nachkommen des Anführers der Meuterer, waren Gäste, die von Schiffen kamen, manchmal lieber als einheimische Kundschaft, mit der sie erstens oft verwandt war und die ihr zweitens nur wenig erzählen konnte, was sie nicht schon längst wußte.
    Während ich neuseeländisches Bier aus einer Kühltruhe trank, die ein brummender Generator mit Strom versorgte, fragte sich Mrs. Christian, warum, um Himmelswillen, warum Menschen denn um die halbe Welt

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