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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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sagte Mrs. Christian zum Abschied, ich könne für meine Inselumwanderung so gut wie jeden Weg nehmen. Am Ende würde ich doch unweigerlich wieder ankommen, von wo ich ausgegangen war, und dabei überall auf die Geschichte der Bounty stoßen, auf den unter großen Mühen geborgenen, zum Denkmal gewordenen Anker, auf eine zum Denkmal gewordene Bordkanone, auf die gerettete Bordbibel und auch auf das Grab des letzten Meuterers.
    Auf roten Erdstraßen, gewundenen Pfaden und weglosen Höhenzügen hatte ich schließlich kaum mehr als zwei Stunden für die Umwanderung der Insel gebraucht und Adamstown dabei nur selten aus den Augen verloren. Obwohl die höchste Hügelkuppe Pitcairns bloß dreihundertsiebenundvierzig Meter über der Brandung lag, klafften entlang meiner Route Abgründe, so steil und manchmal überhängend zum Meer abstürzend, daß ihre Tiefe grundlos erschien. Tatsächlich erinnerten viele Ortsnamen auf einer Inselkarte, die ich immer wieder aus meiner Brusttasche zog, an Stürze:
Nellie Fall, Dan Fall, Tom Off, Lin Fall, Minnie Off, Johnny Fall
 – hier und hier und hier waren die und der und der und die beim Sammeln von Seevogeleiern oder auf der Suche nach Kräutern und entlaufenen Ziegen in den Abgrund gestürzt oder auf einem scheinbar sicheren Felsen von einer Riesenwelle erfaßt und in die Ewigkeit gespült worden.
    In den Steilhängen, die zu den Unglücksorten hinab- oder emporführten, hatte ich immer wieder schwarze Ziegen gesehen, die, wenn sie mich bemerkten, oft minutenlang wie erstarrt stehenblieben, bevor sie in Panik davonsprangen. Die Meuterer hatten solche Ziegen aus Tahiti mitgebracht und sie frei auf der Insel weiden lassen, bis sie wieder so scheu und wachsam wie Wildtiere geworden waren.
    Die Ziege an der Grundlinie des überwucherten Tennisplatzes war im Sucher meiner Kamera kaum zu halten gewesen. Das digitale Bild zeigte am Ende nur einen verwischten Schatten vor den Lichtreflexen aus der Bounty Bay, in der immer noch Reste des Meutererschiffs lagen, Nägel, Beschläge, Ballaststeine in nur wenigen Metern Wassertiefe. Der große Blick auf die Bay, der sich vom Tennisplatz bot, hätte mir erlaubt, das Meutererschiff brennen und sinken zu sehen.
    Wie friedlich Adamstown aus der Höhe des Tennisplatzes erschien – die ins Grün gestreuten Bungalows, die Felstürme und Höhenrücken, auf denen das Gras wogte, Kokospalmen, die sich in leichten Brisen kaum merklich und geräuschlos bewegten. Wie schnell das Gras hier selbst über Betonplätze wuchs, wenn nur noch Licht und Schatten, Regen und Wolkenbrüche sie bespielten. Die klaffenden Risse im steingrauen Belag ließen das Spielfeld aussehen, als sei es bereits im Jahrhundert der Bounty angelegt worden.
    Ich setzte mich auf dem schmalen Streifen zwischen Dickicht und der verblaßten Seitenlinie in den Schatten und trank Mineralwasser aus Christian’s Café. Die Flasche stammte vermutlich aus der Ladung eines der zwei oder drei neuseeländischen Versorgungsschiffe, die Pitcairn jährlich anliefen. Die Ziege konnte mich in meiner Deckung hinter hohen Schilfgrasbüscheln nicht sehen. Auch ich bemerkte von ihr nur noch das gelegentliche Klingeln des Eisenringes.
    Daß die vom ehemaligen Kohlenfrachter zur bewaffneten Dreimastbark umgerüstete Bounty unter dem Kommando eines Lieutenants namens William Bligh Brotfruchtbaumschößlinge von Tahiti nach den Antillen bringen sollte, war eine der zahllosen Folgen des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges gewesen. Denn nachdem die Krone kein billiges Getreide mehr aus dem abtrünnigen Amerika beziehen konnte, waren auf englischen Zuckerrohrplantagen in der Karibik innerhalb weniger Jahre nach ungenauen, zumeist beschönigenden Schätzungen fünfzehntausend Sklaven verhungert. Die bis dahin auf den Antillen unbekannte Brotfrucht sollte nun ein neues, möglichst großes Heer von Sklaven möglichst billig ernähren.
    Lieutenant Bligh, an den Maßstäben der Admiralität gemessen ein nachsichtiger und liberaler Offizier, hatte an der Seite von James Cook die Welt umsegelt und schien für eine Fahrt nach dem in Europa noch kaum bekannten, mythenverzauberten Tahiti der richtige Seemann. Bligh hoffte seinerseits, nach dieser Mission endlich zum Kapitän befördert zu werden.
    Fletcher Christian, Zweiter Offizier auf der Bounty, hatte lange wie ein Ziehsohn im Haus von William Bligh verkehrt, war aber nach glücklichen Monaten auf Tahiti, nach der Ernte und Verstauung der Schößlinge und dem

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