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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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reisten, Abertausende Meilen durch den Pazifik, um den letzten Hafen der Bounty zu sehen, sich für die wahre Geschichte der Meuterei aber ebensowenig interessierten wie für das wirkliche Leben auf einer Insel, die nicht am Ende der Welt lag, sondern das Ende der Welt
war.
    Aber ja, natürlich, wenn die Rede auf Südseeträume kam, auf paradiesische Strände, die es hier nicht gab, auf einen endlos blauen Himmel, den es hier nicht gab – oder gar auf Südseemädchen!, da wurde man selbst in Regenländern hellhörig, in denen man den Namen Pitcairn zuvor noch nie gehört hatte, geschweige denn wußte, wo im Pazifik diese letzte Zuflucht der Meuterer lag. Als die Zeitungen von Patagonien bis England voll von diesen Mädchengeschichten gewesen waren, diesem Prozeß, in dem die Hälfte aller Männer von Pitcairn angeklagt worden war, Minderjährige genötigt und vergewaltigt zu haben, da waren mit jedem Schiff immer auch ein paar
Peeping Toms
, Spanner, gekommen, die in Klarsichtfolie eingeschweißte Artikel über
Das verlorene Paradies, Verbrechen im Paradies, Schatten über dem Paradies
und ähnlichen Schwachsinn mitbrachten und die Wirklichkeit mit ihren Folien vergleichen wollten. Als ob Pitcairn je ein Paradies gewesen wäre.
    Polizisten, Gerichtsbeamte, Staatsanwälte und Verteidiger aus England und Neuseeland hatten die Einwohnerzahl von Adamstown damals für sieben Prozeßwochen verdoppelt. Richter waren um die halbe Welt gereist, um festzustellen, daß die Männer am Ende der Welt nicht besser waren als in ihrer Mitte. Daß Pitcairn als britische Kolonie immer noch der Krone unterstand, war für die Ankläger von Bedeutung gewesen, nicht für die Angeklagten. Immerhin, sagte Mrs. Christian, war Adamstown der erste Ort der Welt gewesen, auf dem das uneingeschränkte Frauenwahlrecht eingeführt worden sei – im Jahre 1838 ! Aber wer hier lebte, sprach nicht nur eine Mischung aus Tahitianisch und einem Englisch aus dem Jahrhundert der Bounty, sondern hatte unter seinen Vorfahren auch Frauen und Männer aus Tahiti und Tubuai, die von den Meuterern hierher entführt worden oder später von Mangareva, Raiatea und anderen Inseln gekommen waren. Einige der Angeklagten hatten sich zu ihrer Verteidigung eben auf die alten Gesetze und Traditionen der Südsee berufen, die Regeln des Paradieses.
    Mrs. Christian entließ ihre plappernde Enkeltochter auf den Boden, wo sie auf allen vieren dem in seine Starre zurückgesunkenen Fregattvogel entgegenkroch. Durch die verglaste Veranda war weit draußen mein Schiff im Nachmittagsglitzern des Meeres zu sehen, als eine Art Glockengeläut einsetzte; helle, weithin klingende Schläge. Mit dieser Glocke, sagte Mrs. Christian, sei jeder Bewohner der Insel überall zu erreichen. Heute werde sie für Deborah Christian geschlagen, ihre Schwiegermutter. Die sei am Morgen, kurz vor der Ankunft meines Schiffes, im Alter von achtundachtzig Jahren gestorben.
    Deborah! Auf Pitcairn geboren, auf Pitcairn gestorben, hatte sie ihr ganzes Leben auf dieser Insel verbracht und, wie viele Pitcairner, niemals Sehnsucht nach irgendeinem Festland gehabt. War es ein Wunder, daß sie gerade am dreiundzwanzigsten Januar, dem
Bounty Day
, den die Leute hier als festlichen Jahrestag begingen, vom Schlag getroffen wurde und die letzten Wochen ihres Lebens sprachlos, stumm verbrachte, als wollte sie jenes Geheimnis für immer bewahren, zu dem die Meuterer Pitcairn machen wollten …? Deborah hatte ihre Sprache ausgerechnet in den Stunden verloren, in denen ein Modell der Bounty, wie jedes Jahr, in der Bay ausgesetzt und in Brand gesteckt wurde und, wie jedes Jahr, genau an der Stelle sank, an der auch die Meuterer ihr Schiff im Januar 1790 in Brand gesteckt und versenkt hatten, um das letzte verräterische Zeichen zu tilgen, das ein von seiner Route abgekommenes, zufällig vorübersegelndes Schiff anziehen konnte.
    Aber auf dieser Welt sei auf Dauer nichts zu verbergen, sagte Mrs. Christian, kein Schiff, keine Schandtat, keine Insel. Denn auch wenn Christians Gefährten von ihren Verfolgern niemals entdeckt worden waren, hatten doch ihre Nachkommen mehrmals versucht, die Insel zu verlassen, waren einmal nach Tahiti umgesiedelt, Jahrzehnte später auf die sechstausend Kilometer weiter westlich gelegene verlassene Gefängnisinsel Norfolk … Aber stets sei das Heimweh der Ausgewanderten so groß geworden, daß viele von ihnen, genau wie dieser Fregattvogel hier, immer wieder zurückkehrten.
    Jeden Weg,

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