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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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benannten Insel, die aber wieder in Vergessenheit geraten und auf verschiedenen Seekarten an zumindest drei verschiedenen, weit auseinanderliegenden Positionen eingetragen worden war. Selbst ein Entdecker und Weltumsegler wie James Cook hatte diese Insel mit Unterstützung seines Navigators William Bligh vergeblich gesucht und an den ihr zugeschriebenen Koordinaten nur den leeren Horizont gefunden. Also mußte dieser Ort sicher sein wie kaum ein anderes Versteck auf dieser Erde.
    Was für ein Triumph, als nach einer langen, an manchen Tagen verzweifelten Irrfahrt im Januar 1790 endlich Felswände aus dem Wasser stiegen. Das mußte Pitcairn sein. Hier sollte endlich, mußte endlich alles besser werden, vielleicht so gut werden wie noch nie. Und vielleicht ließ sich hier sogar vergessen, was nicht zu vergessen war.
    Schon in den ersten Tagen nach der Anlandung gab es trotz aller Hoffnungen Grund zum Streit: Der Matrose Matthew Quintal, der den Galgen mehr als alle anderen fürchtete, steckte die auf Grund gesetzte Bounty in Brand, ohne sich zuvor mit seinen Gefährten beraten zu haben. Als das Schiff elf Stunden später sank, war zwar ein weithin sichtbares, verräterisches Zeichen verschwunden, verschwunden aber auch jede Möglichkeit, der Gefangenschaft auf einem Felsen inmitten des größten und tiefsten Ozeans der Erde aus eigener Kraft jemals wieder zu entkommen, der Gefangenschaft vor allem aber in den Fallen der Erinnerung, der Schuld, des Heimwehs und der Sehnsucht.
    Was nun begann, war das Drama eines Neuanfangs, das allerdings allein der Logik der für immer verlassenen, alten, tief unter dem Horizont liegenden Welt zu folgen schien: Zunächst beanspruchten die neun Meuterer neun der zwölf Tahitianerinnern als ihr Eigentum. Die verbliebenen drei Frauen sollten den sechs polynesischen Knechten dienen. Als aber bereits im ersten Jahr der neuen Zeit die Gefährtin eines Meuterers auf der Suche nach Vogeleiern von den Klippen stürzte, eine zweite an einer Vergiftung starb und daraufhin zwei Frauen der Knechte die Toten ersetzen sollten, wollten sich die Knechte für diese Schmach – und auch dafür rächen, daß die Insel allein unter Weißen aufgeteilt worden war, und griffen ihre Herren an. Die schlugen zurück und töteten zwei der Angreifer. Die Überlebenden flüchteten und versteckten sich, bis ihnen nach einer Zeit trügerischer Ruhe endlich die Rache gelang: In einem nächtlichen Überfall erschlugen sie fünf Meuterer, unter ihnen auch Fletcher Christian, begannen nach ihrem Sieg allerdings gegeneinander zu kämpfen. Einer von ihnen starb im Streit um eine Frau, ein zweiter, der sich mit den Meuterern neuerlich verbünden, und ein dritter, der ihn dafür töten wollte, wurden von den Weißen erschossen. Den vierten und letzten der polynesischen Knechte erstach eine der an ihrem Heimweh verzweifelnden Tahitianerinnen.
    Die Frauen hatten auf Pitcairn nicht nur ihre Freiheit und ihre Familien, sondern auch ihre Namen verloren – aus
Mauatua
war Isabel geworden, aus
Teatuahitea
Sarah, aus
Toofaiti
Nancy, aus
Vahineatua
Prudence und Jenny aus
Teehuteatuaonoa …
Aber jetzt war es genug. Die Frauen hatten die Insel bewohnbar gemacht, wußten, wie man Gärten anlegte, die Brotfrucht zubereitete, aus dem Papiermaulbeerbaum Fasern für Kleidung und Decken gewann und die Kokosnuß auf hundert Arten verwendete – aber jetzt war es genug. Sie wollten die Insel verlassen und begannen in aller Heimlichkeit an einem Floß zu bauen. Tahiti war weit, unendlich weit, aber vielleicht lagen noch andere, namenlose Inseln auf ihrem Weg in die Heimat. Jede von ihnen mußte besser sein als Pitcairn.
    Aber das Floß wurde entdeckt. Und die Frauen wurden zurückgezerrt in die der alten so ähnliche neue Welt, in der plötzlich aber auch der Matrose William McCoy nicht länger bleiben wollte. McCoy hatte in einem beinah vergessenen Leben in einer walisischen Schnapsbrennerei die Maische gerührt. Nun zerstampfte er die Wurzeln der Keulenlilie zu einem Brei, aus dem er ein Getränk brannte, das ihm endlich zur Flucht verhalf: Er betrank sich, wand einen Strick um seine Füße, verknotete ihn, steckte dann auch seine Arme so in die Fessel, daß eine Befreiung nicht mehr möglich war, und ließ sich von einem Felsen in den nun endlich friedlichen Ozean fallen.
    Von den drei letzten Männern auf Pitcairn trank einer den Rest von McCoys Palmfusel, bis er in eine tagelange Raserei verfiel und seine zwei Gefährten aus Furcht

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