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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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vergangen? Die Sonne war höher gestiegen und hatte den Schattenwurf der Säule weiter verkürzt und den Nackten erneut ins grelle Licht geraten lassen. Und wieder schrie und heulte er, bis er seiner schwindenden Zuflucht nachgerückt war.
    Ich hatte nun nur noch Augen für ihn, so als wäre er der einzige Insasse und nicht einer von mehr als – wie man mir in Athen gesagt hatte: zweitausend. Kauernd hielt der Nackte seine Knie mit beiden Armen umfangen, als hielte er etwas Tröstendes, Geliebtes fest, und schrie und folgte unter dem Zwang der in den Zenit steigenden Sonne dem Schatten, ohne sich ein einziges Mal zu erheben. Schrie. Wimmerte. Beruhigte sich. Verstummte.
    Ich weiß nicht mehr, wie oft ich diese Abfolge von Geheul, Gewimmer und Verstummen gehört hatte, als der Säulenschatten ihn endlich an das Gebäude heranführte, näher und näher – und dann im großen, im ungeheuerlichen, von zahllosen anderen Nackten und Stummen besetzten Schatten der Mauern verschwand.
    Jetzt hob der Mann zum erstenmal den Kopf und blickte um sich: ringsum Schatten, streckte einen Arm aus: Schatten, streckte den zweiten Arm aus: Schatten, überall Schatten, aber nirgendwo dieser schmale, dieser kleine Schatten, der allein ihm gehört hatte – und begann so gellend und in allen Tonlagen der Qual zu schreien, daß selbst einige bisher in teilnahmsloser Starre hockende oder liegende Insassen sich ihm zuwandten.
    Aber diesmal half kein tastendes Vorrücken, kein Nachrücken. Die Sonnenuhr, deren Teil er gewesen war, blieb verschwunden. Die Zeit stand still. Vielleicht glaubte sich der Nackte nun in einem endlosen Augenblick gefangen: Alles, alles würde für immer so bleiben, wie es war – dieser baumlose, staubige, glühende Hügel. Diese Mauern. Alles für immer. Und wie im Entsetzen darüber, hörte er nicht auf zu schreien, zu heulen, bis sich der auf der Bank sitzende Wärter erhob, er trug um den Hals eine Kordel und daran ein Medaillon, ein Kreuz oder eine Trillerpfeife, und etwas durch die offenstehende Tür neben der Wärterbank ins Innere des Gebäudes rief. Ein zweiter Wärter erschien.
    Ohne Eile gingen die beiden dann auf den Gequälten zu, faßten ihn unter den Achseln und schleiften ihn, der sich auch jetzt nicht aus seiner Kauerstellung lösen konnte, sondern wie durch einen Krampf darin heulend gefangen schien, über die steinige Erde zur offenen Tür und über die Schwelle und in die Finsternis dahinter.

Ein Hai in der Wüste
    Ich sah einen dürren, mit flatternden Tüchern oder Fähnchen behängten Baum am Rand einer Küstenstraße, die zwischen schattenlosen Wüstenstrichen und schattenlosen, steinigen Stränden des Roten Meeres verlief und in die jemenitische Hafenstadt Al Hudaydah führen sollte. Über lange Strecken asphaltiert, dann wieder bloß Piste, erschien diese Straße im Heckfenster eines Sammeltaxis als wallende Staubfahne, in der alles verschwand, was an uns, fünf Passagieren und einem gegen den Flugsand vermummten Fahrer, vorüberglitt – flache Dünen, von Treibgut und Scherben übersäte Buchten, Dornsträucher. Der Himmel war sandfarben, die Wolken waren sandfarben, selbst das Rote Meer hatte die Farbe des Sandes, und so erschien dieser Baum in der Wüste, der einzige weithin, mit seinem flatternden, bunten Schmuck wie ein Grenzzeichen der nahen Stadt, ein Versprechen, daß Einfarbigkeit und Monotonie jenseits dieser Wegmarke enden würden.
    Während der Baum, eine wohl schon vor langer Zeit verdorrte Tamariske, im Tempo der Fahrt zu überraschender Größe aufwuchs, dachte ich an tibetische Paßhöhen: Dort winkten und flatterten ähnliche Zeichen,
Windpferde –
bedruckte Gebetsfahnen in den Farben des Wassers, des Feuers, des Himmels, der Erde und der Luft. Vielleicht schlugen an dieser Tamariske ja Koransuren im Wind oder auf Stoffähnchen gekritzelte Wünsche, die, an einem geheiligten Ort in die nackten Zweige geflochten, ihre Erfüllung erwarteten.
    Der Fahrer, ein Mechaniker aus Aden, der bei Bedarf seine Werkstätte für ein, zwei Tage schloß, um mit einem Sammeltaxi einträglichere Überlandfahrten zu unternehmen, bedachte die flatternden Zeichen aber mit keinem Blick, näherte sich dem Baum mit unverminderter Geschwindigkeit, fuhr an ihm vorüber und weiter. Und erst im Vorüberfahren, während der vermeintliche Grenzbaum in unserer Staubfahne versank, sah ich, daß diese winkenden Tücher oder Wimpel eines rätselhaften Glaubens nur leere Plastiksäcke waren, Säcke in

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