Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
Vom Netzwerk:
waren – so hatten sie diese Länder doch nicht vermessen, nicht betreten und vor allem: nicht getauft. Und was machte es schon, wenn auch nach der Payer-Weyprecht-Expedition noch eine Klippe hier und ein unbekannter Felsen da über den Horizont stieg und zu den Akten genommen wurde: Mit der Taufe des Franz-Joseph-Landes war der letzte weiße Fleck von der Landkarte der Alten Welt getilgt. Die Globen und die Atlanten, bereichert um eine mehr als sechzehntausend Quadratkilometer große menschenleere Wildnis, spiegelten nun endlich ein vollständiges Bild dieser Erde.
    Siebenundsechzig Polarbären hatten die kaiserlichen Jäger im Verlauf ihrer Eisjahre, oft in Todesgefahr, erlegt und verzehrt. Ohne Bärenfleisch wäre die Mannschaft verhungert.
    Wir hatten, auf den Spuren dieser Jäger, mit dem Fernglas an der Reling stehend, zwar immer wieder Polarbären von Scholle zu Scholle des unter dem Kiel berstenden Packeises springen sehen – einige hatten sich, wenn das Schiff still im Eis lag, aufgerichtet, ihre Tatzen an die Bordwand gelegt und zu uns emporgeblickt –, aber auf unseren Wanderungen über die Inseln waren wir nur ein einziges Mal einer Bärin mit ihren zwei Jungen begegnet:
    Obwohl mit Pfefferspray und einem großkalibrigen Jagdgewehr bewaffnet, hätten wir uns vermutlich kaum schnell genug oder nur mit Mühe zu verteidigen vermocht, wenn die Bärin in uns eine Bedrohung für ihre Jungen oder auch bloß Beute gesehen hätte. Was für ein Anblick, als sie gefolgt von ihren Jungen in gemächlichem Lauf hinter einer etwa fünfzig Meter entfernten Eisklippe auftauchte und augenblicklich stehenblieb. Erst allmählich, die Witterung Segment für Segment eines unsichtbaren Kreises mit einer fast graziösen Bewegung ihrer Schnauze prüfend, wandte sie sich uns zu.
    Ich hatte in meinem Roman Bärenjagden beschrieben, auch den Schrecken und die panische Flucht unbewaffneter, bei Arbeiten im Eis von Bären überfallener Matrosen. Aber bei meinen Nachforschungen war nie davon die Rede gewesen, daß ein Mensch in den Augenblicken seiner Angst auch leicht werden konnte, federleicht, so unglaublich leicht, daß die nächste Brise ihn vor die Pranken und Fangzähne eines Raubtiers wehen oder ihn hochwirbeln konnte wie Laub oder Seidenpapier und so in etwas verwandeln, das bloß aus der Luft gepflückt oder mit einem spielerischen Prankenhieb aus einem richtungslosen, taumelnden Flug geschlagen zu werden brauchte. Ich schwebte.
    Aber die Bärin hatte mich, hatte uns vielleicht als seltsam, aber harmlos und auch als Beute nicht interessant genug, möglicherweise aber als in jeder Hinsicht für zu leicht befunden und lief nach ihrem kurzen Innehalten und einem prüfenden Blick ihren Jungen bereits wieder leichtfüßig voran, als ich bemerkte, daß mein Freund das Gewehr nicht mehr am Riemen über der Schulter trug, sondern in den Händen hielt. Ich hatte in meinem Erschrecken keinen Augenblick lang auch nur daran gedacht, den Pfefferspray aus der Seitentasche meines Rucksacks zu ziehen.
    Ein flacher Hang auf der Champ-Insel war mit dem Piloten als Landeplatz und Treffpunkt vereinbart worden, weil er wegen zahlloser, weithin sichtbarer und lange Zeit rätselhafter Steinkugeln unverwechselbar war. Diese Kugeln, viele von ihnen kaum größer als Murmeln und Tennisbälle, einige aber mit einem Durchmesser von einem, zwei, sogar drei Metern, lagen über diesen Hang verstreut und waren ihrer geometrischen Ebenmäßigkeit wegen von Expeditionen der Vergangenheit als Reste einer verschwundenen Kultur, als Opfer an die Geister der arktischen Finsternis, ja sogar als Hinterlassenschaft außerirdischer Besucher gedeutet worden. Ein japanischer Geologe an Bord der Kapitan Dranitsyn hatte allerdings bloß von komplexen chemischen Prozessen innerhalb von Sedimentgesteinsschichten gesprochen, die zu schalenförmigen Ablagerungen – etwa um ein winziges Fossil – führten und, vergleichbar mit dem Wachstum einer Perle im Innern einer Auster, diese rätselhaften Kugelformen entstehen ließen.
    Wir erreichten unseren Treffpunkt zwischen den Steinkugeln nach fünf sonnigen Nachtstunden noch vor der vereinbarten Zeit und befürchteten das Schlimmste, als wir den anfliegenden Helikopter – und nach einem durchdringenden metallischen Krachen, mit dem offensichtlich ein Turbinenblatt zersprungen und die Bruchstücke in den rasenden Lauf des Blätterkranzes gewirbelt waren, den gebremsten Sturz und die harte Landung sahen. In den zehn,

Weitere Kostenlose Bücher