Atlas eines ängstlichen Mannes
Sydneys finstere Nord- und Südküste miteinander vernähten.
Am Nachthimmel begannen die von der Stadt eben noch überstrahlten Sternbilder der südlichen Hemisphäre zu erscheinen, der Kentaur, das Segel, das Kreuz des Südens, der Wolf … und auch das Licht auf dem Brückenbogen wurde in der plötzlichen Dunkelheit heller, klarer, hielt kurz inne, als müßte es sich besinnen, welcher Konstellation es sich als Stern unter Sternen anschließen wollte, und stieg dann beharrlich höher.
Vielleicht lag es an meiner schlaflosen Müdigkeit, vielleicht auch am Rotwein, daß ich diese Finsternis, die sich wie eine Explosion ausgebreitet hatte – sie sollte als einer der katastrophalsten Stromausfälle in die Chronik Sydneys eingehen –, so selbstverständlich empfand wie das Dunkel eines Zimmers, in dem das Licht abgedreht worden war. Vielleicht nahm ich die Verfinsterung aber auch nur beiläufig wahr, weil meine ganze Aufmerksamkeit einem Licht gehörte, das im nächsten Augenblick fallen und für immer erlöschen konnte.
Jetzt hatte es den Scheitel des Brückenbogens erreicht und wanderte, schwebte, ohne innezuhalten, über ihn hinweg. Und begann dann langsam wieder zu sinken. Es sprang nicht, stürzte nicht, sondern sank den schwarzen Promenaden der Südküste entgegen, an der nicht die Unterwelt wartete, sondern bloß eine in Dunkelheit gehüllte Stadt.
Am nächsten Tag sollte ich neben Einzelheiten zum großen Stromausfall auch erfahren, daß ein Weg über den Brückenbogen als besondere Form einer Stadtbesichtigung auch kurzfristig gebucht werden konnte – professionelle
Guides
führten möglichst schwindelfreie, möglichst trittsichere, mit Seilen und Klettergurten ausgerüstete Touristen über den Brückenbogen. Aber natürlich nicht in der Nacht, selbstverständlich nicht in der Nacht. Auch der Rezeptionist hatte keine Erklärung für mein wanderndes Licht.
Aber selbst wenn, was ich gesehen hatte, bloß die Stirnlampe eines Technikers gewesen war, eines Statikers auf seinem Kontrollgang oder eines Fotografen, der mit einer Sondergenehmigung der Stadtverwaltung an Nachtbildern arbeitete, blieb davon unberührt, daß ich als ratloser, vom scheinbar Unvermeidlichen gebannter Zeuge an einem Panoramafenster mitverfolgt hatte, wie ein Licht in einer von Lichtern durchsiebten Nacht empor- und dem Tod entgegengestiegen, dann aber in einer rasenden, alles verschlingenden Verfinsterung wieder ins Leben zurückgesunken war.
Zweiter Geburtstag
Ich sah eine gedeckte Tafel im Mannschaftsraum des russischen Eisbrechers
Kapitan Dranitsyn
. Das Schiff lag mit gestoppten Maschinen so still im hocharktischen Packeis, daß aus keinem der zwölf auf das Glück eines lächelnden Mannes erhobenen Gläser auch nur ein Tropfen schwappte. Ein weißes Tischtuch und eine Sprühkerze, die Sterne auf den Zuckerguß eines Blechkuchens regnen ließ, gaben der Tafel ein festliches Aussehen, das allerdings im Widerspruch zu den blauen Arbeitsoveralls der Gäste stand:
Der Pilot eines der beiden Bordhelikopter hatte während einer Schichtpause Ingenieure und Matrosen zu diesem Empfang als seinem
Zweiten Geburtstag
geladen, weil er wenige Stunden zuvor, während des Anflugs auf eine der vergletscherten Inseln des russischen Franz-Joseph-Land-Archipels einen Turbinenausfall und den darauffolgenden Absturz, den nur die vom Fallwind bewegten Rotorblätter bremsten, unverletzt überlebt hatte.
Der Gerettete hätte mich zusammen mit einem Freund von einem vereinbarten Treffpunkt auf der Champ-Insel – einer der fast zweihundert unter Gletschern begrabenen Inseln des Archipels – zum Schiff zurückfliegen sollen und hatte nach seiner Bruchlandung blaß und schweigend gemeinsam mit uns auf den Ersatzhelikopter gewartet.
In den Stunden davor war ich mit meinem Freund im Licht der Mitternachtssonne von einer schwarzen, etwa zwanzig Kilometer südwestlich der Absturzstelle aus dem Eis ragenden Felsformation über steiniges, für wenige Sommerwochen aber schneefreies Gelände dem Treffpunkt entgegenmarschiert und hatte unterwegs den Küstenverlauf immer wieder mit Fotokopien von Stahlstichen verglichen, die nach den kartographischen Skizzen der Entdecker dieses Landes angefertigt worden waren: Tafelberge, Packeis und perlmuttschimmernde Dunstbänke, die selbst aus geringer Entfernung von beschneiten Gletschern kaum zu unterscheiden waren – alles lag unverändert und scheinbar unbetreten vor uns, so, als ob hier im August 1873 , dem
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