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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Entdeckungsjahr dieser nördlichsten Inselgruppe der Welt, die Zeit stehengeblieben wäre.
    Immer wieder hatten wir in diesen milden arktischen Sommertagen das Schiff mit besonderer Erlaubnis des Ersten Offiziers ohne Begleitmannschaft verlassen, um Inseln, Fjorde und Kaps auf den Routen jener österreichisch-ungarischen Polarexpedition zu umwandern, die diesen unbewohnten Archipel auf einer von der Packeisdrift erzwungenen Irrfahrt im Sommer 1873 entdeckt und zu Ehren eines fernen Herrschers
Kaiser-Franz-Joseph-Land
getauft hatte.
    Der von der norwegischen Insel Spitzbergen in die russische Hocharktis führende Kurs der Kapitan Dranitsyn war der Erinnerung an diese Entdeckungsfahrt gewidmet, die nach den Hoffnungen der Landtäufer entlang der sibirischen Polarküste vom Atlantischen in den Pazifischen Ozean hätte führen sollen und damit die Existenz einer
Nordostpassage
beweisen, jener mythenverzauberten Route, auf der bereits in den Jahrhunderten vor der kaiserlichen Expedition und noch im Jahrhundert nach ihrem Scheitern Schiff um Schiff verschwunden war.
    Ich war zur Polarfahrt an Bord der Kapitan Dranitsyn eingeladen worden, weil ich fast zwanzig Jahre zuvor einen Roman über die Entdeckung des Franz-Joseph-Landes geschrieben hatte – allerdings ohne je in der Arktis gewesen zu sein. Ich hatte damals weder die vielen Farben des Packeises noch das Wehen und Flackern des Nordlichts oder auch nur den kreisenden Schein der Mitternachtssonne gesehen, sondern mich meiner Erzählung genähert, indem ich Polarreisende und heimgekehrte Bewohner arktischer Stationen befragt, ihre Tagebücher und Berichte gelesen, Gemälde und Fotos betrachtet oder Tiefenlotungen mit den Blauschattierungen auf meinen Eismeerkarten verglichen hatte.
    Und nun, in diesen ungewöhnlich wolkenarmen Sommerwochen, so viele Jahre nach dem Ende meiner Erzählung und mehr als ein Jahrhundert nach den qualvollen Märschen und Hundeschlittenfahrten
meiner
Expedition, setzten uns die Helikopterpiloten der Kapitan Dranitsyn je nach Windverhältnissen auf einer der von kaiserlichen Landvermessern bei Temperaturen von minus vierzig und fünfzig Grad Celsius kartographierten Inseln ab und nahmen uns im Verlauf eines sonnigen Tages oder einer sonnigen Nacht an einem vereinbarten Treffpunkt wieder an Bord.
    Wenn der Helikopter, eine für die Luftkämpfe der Roten Armee entwickelte robuste Maschine, uns in brüllenden Wirbeln aus Schnee- und Eiskristallen zurückließ, noch eine Weile am arktischen Himmel dahinschlug, bevor er zum dunklen, singenden Punkt wurde und verschwand, begann für uns jedesmal ein Weg durch eine stillstehende Zeit. Denn nur selten, nur, wenn wir auf einem Tafelberg oder einer Anhöhe den Eisbrecher klein wie verlorenes Spielzeug im Packeis liegen sahen, wurden wir daran erinnert, daß hier seit der Entdeckung dieses Landes nichts und doch alles geschehen war: Zeit war vergangen.
    Nach mehr als zwei Jahren im Packeis, zwei Polarnächten mit den tiefsten bis dahin gemessenen und von Menschen ertragenen Temperaturen, nach Skorbut, Erfrierungen und allen Schrecken des Eises und der Finsternis hatte die kaiserliche, unter den Namen ihrer Kommandanten Julius Payer und Carl Weyprecht in die Entdeckungsgeschichte eingegangene Expedition ihren dreimastigen Barkschoner in einem nicht mehr zu brechenden Eispanzer zurückgelassen und versucht, sich zu Fuß über das Packeis ans offene Wasser zu retten. Ein monatelanger Marsch, auf dem sie ihre Beiboote, massive norwegische Walfängerboote, durch Schneemorast und die Ruinenlandschaften des Packeises hinter sich herzerrten, erschien ihnen dabei als eine Zusammenfassung aller Torturen ihrer arktischen Jahre.
    Aber was bis dahin noch niemals ohne eine lange Liste von Toten bewältigt worden war, geschah: Die Mannschaft erreichte tatsächlich das offene Meer, die von Stürmen zerrissene Barentssee, und ruderte, segelte mit ihren Rettungsbooten bis vor die zerklüftete Küste der Doppelinsel Nowaja Semlja, wo ein russischer Walfänger die von Hunger, Geschwüren und Frostbeulen entstellten Fremden an Bord nahm und nach Nordnorwegen brachte. Von dort kehrten die Entdecker des letzten Landes der Welt im Triumph nach Wien zurück, wo sie von mehr als einer halben Million Menschen empfangen wurden.
    Begeisterung! Auch wenn des Kaisers kalte Länder bereits in vergangenen Jahrhunderten von namenlosen Polarfahrern, Tranjägern oder Gefangenen des Packeises zwischen fernen Dunstbänken gesichtet worden

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