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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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zwölf und langen weiteren Sekunden nach dem Aufprall, in denen wir auf das Wrack über Steinkugeln und Geröll zurannten, saß der Pilot bewegungslos in seiner heil gebliebenen Kanzel.
    Bei der Geburtstagsfeier im Mannschaftsraum, für die einer der Köche einen Helikopter mit Vogelflügeln aus Zucker auf den Blechkuchen gegossen hatte, sagte der Pilot, daß seine Maschine vermutlich die kommende Polarnacht über auf der Insel verbleiben und erst im nächsten Jahr, wenn der Nukleareisbrecher
Yamal
das Franz-Joseph-Land mit Kurs auf den Nordpol und den notwendigen Ersatzteilen an Bord passierte, wieder flugfähig gemacht werden könne. Er werde also am Nachmittag mit dem zweiten Helikopter noch einmal auf die Champ-Insel fliegen, das havarierte Gerät mit Dieseltreibstoff übergießen und auch das Gelände im Umkreis von einigen Metern mit Treibstoff tränken. Nur so, wenn überhaupt, könne man die Eisbären davon abhalten, in den finsteren Wintermonaten die Kanzel einzuschlagen. Ja!, ihre Prankenhiebe seien von einer solchen Gewalt, daß sie damit selbst das Glas einer Pilotenkanzel zertrümmerten, um ihren Hunger mit dem Leder der Kabinensitze und allem, was ihnen freßbar erschien, zu besänftigen. Denn so harmlos dieses größte Landraubtier der Erde im arktischen Sommer auch erschien – wenn Robben wie Fertiggerichte auf dem Eis lagen und selbst Walrosse zur Beute wurden –, in der Kälte und Finsternis der Polarnacht sei der Hunger eines Bären so unstillbar wie die Lebensgier eines Piloten im freien Fall.

Der Eisgott
    Ich sah den weinenden Sohn des Gärtners auf der Freitreppe eines Herrenhauses in der irischen Grafschaft Cork. Er hielt einen kopfgroßen Eisklumpen mit beiden Händen hoch und rief nach seinem Vater, um ihm zu zeigen, was für ein unförmiger, glasiger Brocken aus jenem Schatz geworden war, den er seit Monaten in der Tiefkühltruhe vor dem milden Klima des irischen Südens bewahrte.
    Der Gärtner war gerade dabei, fünf Cordyline-Palmen zu pflanzen, die am Morgen von einer Baumschule in Bantry geliefert worden waren, und bedeutete mir, seinem Helfer, beim Ausheben der Erdlöcher für die Wurzelballen eine kurze Pause zu machen; er werde gleich wieder zurück sein. Dann ging er ein breites, wogendes Beet voll gelb und rot blühender Calla, Aronstäben und Flamingoblumen entlang auf die Freitreppe zu, um seinen Sohn zu trösten. Über die windbewegten Blüten hinweg betrachtet, sah der Kleine auf der Treppe aus wie ein kindlicher Atlas, der eine seltsam winterliche Weltkugel gegen den Himmel stemmte.
    An diesem windigen Frühsommertag schien im Garten des Herrenhauses, der sich in einem sanft zum Atlantik und einem felsigen Strand abfallenden Park verlor, alles in Bewegung: Die blauen Hortensien, die Rhododendren und Kamelien, die hundertjährigen Baumfarne mit ihren Wedeln, groß wie die einer Kokospalme, die Myrten, Erdbeerbäume und Pinien, die Feigenbäume, die Jahr für Jahr bittere Früchte trugen, die Magnolien, roten und weißen Fuchsien und selbst die
Gunnera brasiliensis
mit ihren gigantischen, an einen Riesenrhabarber erinnernden Blättern – Blättern, größer als ein Doppelbett! –, alles, was in diesem Garten am Meer, von den Ausläufern des Golfstroms begünstigt und vom Gärtner gepflegt, in tropischer und subtropischer Üppigkeit blühte und wuchs, nickte sich raschelnd und rauschend zu, verneigte sich voreinander, schaukelte, wippte, schwankte, wiegte und bog sich im Wind – nur der weinende Atlas, die Säule der Welt, stand inmitten aller tanzenden organischen Pracht still. Sein Schatz, sein behüteter Schatz, hatte seine Gestalt verloren.
    Ich hatte den schneeigen Globus, den er jetzt in die Hände seines Vaters legte, in den vergangenen Monaten immer wieder und in verschiedenen Stadien einer Verwandlung gesehen: Als Anfang Februar an diesem Küstenstrich zum erstenmal seit mehr als drei Jahren wieder Schnee gefallen war, hatte sich Kieran, der Sohn des Gärtners, bemüht, der dünnen Schneedecke, die schon nach wenigen Stunden wieder versickert war, den ersten Schneemann seines Lebens abzutrotzen. Er mußte dazu schließlich selbst die weißen Polster von den damals in voller Blüte stehenden Kamelien schütteln, um genug Masse für die Erschaffung eines Männchens zu gewinnen, das seinem Vater gerade bis an die Knie reichte.
    Weil in der Grafschaft Cork auch die Winterluft mild bleibt wie im tiefen Süden und Kierans Sorge um seine Schöpfung groß war, hatte

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