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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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der Harbour Bridge über die Bucht hinweg zuzuspringen schien – als ich dieses aufsteigende Licht bemerkte. Es verschwand im Höherkriechen manchmal für einen Augenblick, kehrte zurück. Das mußte ein Mensch sein, ein Mensch, der den Kegel seiner Taschen- oder Stirnlampe seinen Bewegungen entsprechend dahin und dorthin lenkte. Er kletterte einen Stahlbogen hoch, dessen Scheitel einhundertvierunddreißig Meter über dem Wasserspiegel lag: Ein im Hotelzimmer ausliegender Faltprospekt hatte das Panorama, das sich von der Dachterrasse des Hotels und noch aus dem Fenster meines Zimmers bot, mit Namen und Zahlen beschrieben.
    Einhundertvierunddreißig Meter. Wer auf einem Brückenbogen in diese Höhe kletterte, allein und in der Finsternis, setzte sein Leben aufs Spiel oder wollte es beenden. Wer aus dieser Höhe in die Tiefe sprang, fiel in den sicheren Tod und brauchte weder die Rettung noch die Hilflosigkeit eines Krüppels nach einem gegen alle Wahrscheinlichkeit überlebten Sturz zu fürchten. Wollte der Mensch dort sterben?
    Der Lichtfunke zitterte in meinem Fernglas, zitterte im Rhythmus meines Herzschlags, meiner Atemzüge. Aber selbst als ich mein Glas am Panoramafenster stabilisierte, das der Klimaanlage oder auch einer dem Lebenswillen der Gäste mißtrauenden Vorsichtsmaßnahme wegen nicht zu öffnen war, blieb der Kletterer kaum mehr als ein insektenhaft winziger Schatten, den allein sein schwaches, verschwindendes und wieder aufflackerndes Licht verriet.
    Ich war müde, zerschlagen vom endlosen Interkontinentalflug in einer bis auf den letzten Platz besetzten, überheizten Maschine und hatte, endlich ausgestreckt und geborgen in einem Hotelbett, doch keinen Schlaf gefunden. Bereits zum dritten Mal hatte ich das Licht wieder angedreht, nach der ersten der beiden Rotweinflaschen der
Minibar
auch noch die zweite geöffnet und hatte in der Hoffnung auf die einschläfernde Wirkung des Fernsehens Showmaster, Kommentatoren und schreiende Prediger erscheinen und wieder verschwinden lassen, Kleinfamilien in idyllischer Landschaft, die ihr Glück allein einer Schokolade, einem Shampoo oder einem Waschmittel verdankten, Soldaten verschiedener Armeen, Wildtiere, Zeichentrickmonster, Politiker, schließlich Pornodarsteller und Wetterkarten – und war doch nicht und nicht eingeschlafen.
    Kletterte, kroch dieser Mensch über den Brückenbogen tatsächlich dem Ende seiner Welt entgegen? Was war an seinem Leben zu einer solchen Qual geworden, daß kein anderer Weg mehr blieb als der in den freien Fall?
    Ich starrte durch das Fernglas, jetzt seltsam überzeugt, daß, was ich sah, tatsächlich ein letzter Weg war. Aber was sollte ich in meinem weißen Bademantel tun, was dem Rezeptionisten sagen, wenn ich ihm ein Licht im Panorama vor meinem Fenster beschrieb: Ich sehe einen Funken im Fernglas, gewiß ein Mensch, der von der
Harbour Bridge
springen will, rufen Sie die Feuerwehr, die Polizei, rufen Sie irgendeinen Notdienst in Brückennähe, rufen Sie irgend jemanden, der diesen Lebensmüden retten kann?
    Das wandernde Licht schien plötzlich weit, unendlich weit entfernt – so weit und unerreichbar wie die Toten und Sterbenden auf einem Fernsehschirm, über den Bilder aus Kriegs- und Katastrophengebieten flackerten. Das Licht würde den Scheitel des Bogens erreichen, sich von der Stahlkonstruktion lösen und lautlos in die Tiefe stürzen, noch bevor ein Rezeptionist, ein Feuerwehrmann, ein Retter, irgendeiner außer mir, es auch nur bemerkte. Ich war allein mit dem Unerreichbaren. Wie ein zufälliger Passant, der einen Baum unter dem Winddruck oder auch bloß ein Blatt fallen sieht, stand ich an meinem versiegelten Fenster und wartete, daß das Unvermeidliche geschah – als die Stadt plötzlich zu erlöschen begann.
    Sydney erlosch!, erlosch, als müßte mit diesem einen Menschen auf dem Stahlbogen der Brücke die ganze Welt untergehen: Die erleuchteten Wolkenkratzer, fünfzig, sechzig, achtzig Stockwerke hoch, erloschen – die unteren Etagen zuerst, dann schoß die Finsternis nach oben, bis sie auch die Penthouses verhüllte, die Restaurants und Aussichtsplattformen der Dachgeschosse und selbst das an den höchsten Turmspitzen wuchernde Antennengestrüpp. Und es erloschen die Leuchtfeuer der Reklameschriften, die Häuserzeilen, die Highways … Die Lichtmuschel der Oper erlosch. Die Harbour Bridge war nur noch ein schwarzer Bogen, der mehrspurige Autokolonnen überspannte, letzte verbliebene Lichtstränge, die

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