Atlas eines ängstlichen Mannes
seine Mutter Schaffleisch aus der Kühltruhe ausgelagert – es gab aus diesem Grund ein großes Essen mit Freunden aus Skibbereen – und so dem Schneemann eine Zuflucht geschaffen. Der weiße Zwerg war seither, zumeist vor einem begeisterten kindlichen Publikum, zu verschiedenen Gelegenheiten aus seiner eisigen Finsternis gehoben und wieder darin versenkt worden und hatte in den jähen Temperaturwechseln begonnen, da und dort einen Pelz aus Kondensationskristallen anzusetzen, Eis- und Schneespeck, war durch alle Vorführungen aber erkennbar und bewundernswert geblieben. Es schien, als könnte der mit dem allmählichen Verlust der Formen verbundene Alterungsprozeß zu keinen Veränderungen führen, über die der Sohn des Gärtners und seine Freunde in ihrem Vergnügen am bloßen Dasein eines Schneemanns in einer ringsum grünen, blühenden Welt nicht liebevoll hinwegsahen. Was für ein schöner Mann: ein Pinienzapfen als Nase, die gefrorenen Früchte des Erdbeerbaums als Augen, ein Mund aus einem dürren Rosenzweig, die wächsernen Blätter einer Kamelie als Ohren und der Kopf geschmückt mit einem Kranz aus grünem Lorbeer.
Dieser Schneekönig wäre als der weiße Held von Kinderfesten oder als kostbarer, stummer Freund, den Kieran heimlich ans Licht holte, wenn er die Tiefkühltruhe verbotenerweise allein öffnete, gewiß noch oft, vielleicht sogar bis zum nächsten Schneefall aus seiner eisigen Finsternis aufgetaucht – hätte nicht in den vergangenen Tagen ein Sturm getobt. Die Windstärken ließen den Atlantik mit einer solchen Gewalt gegen die Steilküste und die unbewohnten Inseln in Sichtweite des Gartens rollen, daß turmhohe Gischtvorhänge an Klippen und Felsen emporstiegen, unter Donnerschlägen zerrissen und in vielarmigen Kaskaden in ein brodelndes Chaos zurückstürzten.
Der Sturm entwurzelte Bäume, knickte Strommasten, verfinsterte Dörfer, legte Werkstätten still, ließ Bildschirme erblinden – und Kühltruhen abtauen. Die katastrophale Wärme, die alles Gefriergut an vielen Küstenkilometern allmählich zu durchdringen begann und selbst an den kältesten Orten Schmelzungs- und Verfallsprozesse in Gang setzte, hatte den Schneemann zwar nicht zerstört, ihn aber in jenen mit Kamelienblättern und Rosenholz gespickten Klumpen verwandelt, zu dem er nach der Wiederherstellung der Schaltkreise gefror.
Der Gärtner setzte sich jetzt mit seinem Sohn auf die oberste Treppenstufe, hielt den Klumpen ins Sonnenlicht, drehte und schwenkte ihn und brachte so seine klaren, durchscheinenden Partien zum Funkeln. Was er seinem Sohn dazu sagte, konnte ich über die vielen schaukelnden und nickenden Blumen und Blätter hinweg nicht verstehen, aber der Kleine hörte zu schluchzen auf und stimmte dann auch eifrig nickend irgendeiner Frage zu, nach der sich der Gärtner erhob und das, was vom Schneekönig geblieben war, auf jene von Efeu umrankte Säule legte, auf der bis gestern ein steinerner Faun gestanden hatte; der Sturm hatte ihn vom Sockel gestürzt und zerschlagen.
An der Stelle des entthronten Fauns schimmerte nun ein glasiger, kugeliger Eisgott, vor dem der Gärtner plötzlich mit erhobenen Armen auf die Knie fiel und dann wie ein Priester oder Vorbeter irischer Frömmigkeit Strophe um Strophe eines monotonen Singsangs leierte, bis alle Trauer um den verwandelten Schneemann verflogen schien und sein Sohn zu lachen begann. Und zu diesem Singsang und dem vor der Weite des windbewegten Parks und des von Wellen gezähnten atlantischen Horizonts fast unhörbaren Lachen begann die schmelzende Gottheit Tropfen für Tropfen die Säule hinab- und der schwarzen Gartenerde entgegenzukriechen und sickerte endlich dem Februarschnee in die Unterwelt nach.
Der Prediger
Ich sah einen empörten Mann, einen Prediger, der mit erhobenen Armen über das morastige Spielfeld des größten Fußballstadions der Volksrepublik Polen schritt: Eine Schande! schrie der Mann, was für eine Schande, an einem Ort wie diesem Geschäfte zu machen!, zu schachern an einer den Helden, den Toten und der Erinnerung geweihten Stätte! Jesus, der Gottessohn, habe die Händler und Geldwechsler mit einer Geißel aus dem Tempel von Jerusalem gejagt, und so, genau so, müßte dieses Gesindel, das hier seinen Ramsch, seine Schmuggelware, ja sogar Diebsgut feilbiete, aus dem Stadion gepeitscht werden! Raus, raus! Alle raus!
Ich ließ mir gerade von einem Spielzeugmacher aus Georgien, einem der zahllosen Händler, die an diesem regnerischen
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