Atlas eines ängstlichen Mannes
Apriltag im Warschauer
Stadion des Zehnten Jahrestages
an Tausenden Verkaufsständen und Buden Kundschaft bedienten, die Beweglichkeit einer als Soldat im Tarnanzug kostümierten Marionette vorführen, als sich der Prediger dem von dürrem Gras und Brennesseln überwucherten Torraum näherte. Er hatte einen Stock von der Länge eines Axt- oder Hammerstiels, an den geflochtene Schnüre oder Lederriemen gebunden waren, aus seinem Gürtel gezogen – tatsächlich eine Geißel, die er über seinem Kopf zu schwingen begann. Aber in dem vielstimmigen, vielsprachigen Gedränge im Gassengewirr dieser Budenstadt, die bis hinauf zu den höchsten, mit Gestrüpp bewachsenen und von Regenschleiern verhangenen Rängen des Stadions reichte, nahm kaum jemand von dem Schreier Notiz. Und er schwang seine Geißel ja auch nur, er predigte, er fuchtelte, er verdammte. Aber er tat nicht, was der Gottessohn getan hatte, er schlug nicht zu.
Dieses Stadion,
ihr verfluchten Hausierer!
, sei aus den Trümmern Warschaus errichtet worden, aus Steinen, Ziegeln, an denen noch das Blut der Helden des Aufstands gegen die Deutschen klebte, das Blut Abertausender unschuldiger Bewohner der Stadt, von Kindern, Frauen, Greisen, die als Kugelfang vor die deutschen Panzer getrieben oder als Geiseln massakriert worden waren.
Ihr Halsabschneider!, Betrüger!
, dieses Stadion sei aber nicht allein zur Erinnerung an diese himmelschreiende Barbarei aus dem Schutt erstanden, sondern als ein Bauwerk der Zukunft: Das Volk der Opfer und das Volk der Mörder, Sieger und Besiegte, die Todfeinde von einst, sollten in diesem … diesem Tempel miteinander, gegeneinander, aber in Frieden! spielen. Spielen! sollten sie hier und zeigen, daß Menschen sich aneinander messen, sogar kämpfen konnten, ohne zu töten. Liebet eure Feinde! habe der Gottessohn befohlen, und das hieß doch auch: besiege ihn, wenn du ihn besiegen willst – aber im Spiel.
Und was, rief der Prediger, was trieb dieses Krämergesindel aus der Ukraine und dem Kaukasus an dieser Spielstätte? Es schacherte, verkaufte Schmuggelware und sogar Souvenirs aus dem schrecklichsten Krieg der Menschheit, Orden und Dolche, an denen das Hakenkreuz prangte!
Wollte ich diesem Verrückten wirklich folgen? fragte mich mein Begleiter, ein Freund aus Wien, der seit Jahren in Warschau lebte und mich auf einem langen Spaziergang durch die Stadt über die Poniatowski-Brücke an das Ostufer der Weichsel und in das alte Stadion geführt hatte, das in diesen Tagen als größter Basar nicht nur der polnischen Hauptstadt, sondern Osteuropas galt.
Der Prediger nahm keine Notiz von uns, als wir ihm auf seinem Missionsweg durch das Gedränge in kurzem Abstand folgten, stehenblieben, wo er stehenblieb, weitergingen, wenn er weiterging.
Einhunderttausend Menschen konnte das
Stadion Dziesięciolecia
fassen, das zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Erinnerung an den Warschauer Aufstand, den Kampf polnischer Untergrundarmeen gegen die deutschen Besatzer, eröffnet worden war. Errichtet aus den Trümmern der von Verbänden der Wehrmacht und
SS
dem Erdboden gleichgemachten Stadt, in der während der dreiundsechzig Tage des Aufstands fast zweihunderttausend Polen, die meisten von ihnen Zivilisten, als Geiseln, im Häuserkampf oder zur Vergeltung erschossen, verbrannt oder lebendig begraben worden waren, hatte dieses ungeheuerliche Bauwerk mehr als drei Jahrzehnte nicht nur den großen Warschauer Fußballmannschaften und Leichtathleten als Arena gedient, sondern auch als Bühne für Paraden, opernhafte Machtdemonstrationen der Kommunistischen Partei und selbst als Altarraum einer Feldmesse des polnischen Papstes Johannes Paul II .
Aus Geldmangel schließlich dem Verfall preisgegeben, war das Stadion dann an eine Handelsgesellschaft verpachtet worden, die das Oval
Jarmark Europa
taufte und es als Marktplatz zur billigen Miete Kleinkrämern und Bauchladenträgern aus fast allen Ländern des zerfallenen Sowjetreiches überließ – aber das war an diesem regnerischen Markttag im April längst Geschichte: Händler aus allen Regionen Polens, aus der Ukraine, aus Rußland und Weißrußland, aus Moldawien und Georgien, Tschetschenien, Armenien und Kasachstan, Aserbaidschan, selbst Kirgisistan, dazu Asylanten, Chinesen, Mongolen und Vietnamesen, verkauften hier von Kaffee, Waschpulver und gefälschten Markenartikeln, Raubkopien von Musik und Filmen über geschmuggelte Zobelpelze und Zigaretten, Haushaltsgeräte, billige
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