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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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es um dich. Da hast du von dir gesprochen!«
    »Ich wollte doch nur, dass du was davon hast. Diese Andrea hat ja gezappelt wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ich hab doch schon gesagt, dass ich nicht darüber nachgedacht habe.«
    »Ja, kann man wohl sagen.« Sie wischte sich das Gesicht mit ihrem T-Shirt ab, wobei ich kurz ihren dunkelblauen BH zu sehen bekam, was sie jedoch nicht zu bemerken schien. Vielleicht war es ihr aber auch egal. »Du hast also meinem Vater … Entschuldigung, dem imaginären Geist meines Vaters … all deine Überlegungen unterstellt.«
    »Wer sagt denn, dass es meine Überlegungen waren?«
    Sie schnaubte verächtlich. »Wessen Überlegungen denn sonst? Von irgendwoher musst du diese Sachen doch wissen.«
    Mir wurde so flau, dass ich mich kaum noch aufrecht halten konnte. Ich beugte mich nach vorn und stützte die Ellbogen auf die Knie. Sie sah mich stirnrunzelnd an, dann drehte sie sich weg und kickte einen Ziegelsteinbrocken über den Bürgersteig. Ich wollte einfach nicht darüber nachdenken, ob sie recht hatte, ob die Worte, die ich Andrea in den Mund gelegt hatte, tatsächlich auf mich zutrafen. Schließlich konnte Nickis Vater unmöglich dieselben Fehler gemacht haben wie ich oder dasselbe Schamgefühl mit sich herumgeschleppt haben. Vielleicht hatte er empfunden, was auch ich empfunden hatte – diese trostlose innere Starre, dieses Gefühl, durch eine Glasscheibe von der Welt abgeschnitten zu sein –, doch in seinem Leben hatte es weder einen Onkel Frank noch eine Amy Trillis gegeben. Er hatte keinen pinkfarbenen Pullover in seinem Wandschrank versteckt. Er hatte nicht getan, was ich getan hatte, da war ich mir ganz sicher.

5
    Wir hatten noch eine Stunde Zeit, bis Kent uns abholen kam. Nicki kaufte sich einen Grapefruitsaft, ich mir eine Cola. Dann setzten wir uns auf eine Bank vor der Post und beobachteten die Leute, die vorbeigingen. Der Saft färbte Nickis Mundwinkel lila, während die Rötung in ihrem Gesicht und ihren Augen allmählich nachließ. Wenn Kent eintraf, würde er ihr nichts mehr anmerken.
    Ich hätte sie gern über ihren Vater ausgefragt, um mehr über diesen Mann zu erfahren, dessen Geist wir gerade versucht hatten heraufzubeschwören, ließ es aber, damit sie nicht wieder anfing zu weinen.
    Dass mein eigener Vater nicht mehr da wäre, konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Obwohl er ständig auf Reisen war, wusste ich zumindest, dass er sich irgendwo auf diesem Planeten befand – hierhin und dorthin ging, mit anderen Leuten sprach, nachdachte. Möglicherweise hatte er gerade eine geschäftliche Besprechung, schob sich die Brille zurecht und strich sich die Krawatte glatt. Vielleicht saß er auch in einem ausländischen Restaurant, räusperte sich und kniff die Augen zusammen, wie er es immer machte, wenn er etwas essen musste, das er nicht mochte. Oder aber er hockte auf einem Flughafen und sah sich auf seinem Laptop die neuesten Baseballergebnisse an – angeblich sollte er heute ja nach Hause kommen. Doch wenn ich seine Stimme hören wollte, brauchte ich nur ein Telefon. Jedenfalls brauchte ich kein Medium, um mit ihm in Kontakt zu treten.
    Ich sah Nicki von der Seite an. Sie schwenkte ihre Flasche und beobachtete, wie der Saft hin und her schwappte.
    »Ich kann einfach nicht glauben, dass schon in zwei Wochen die Schule wieder anfängt«, sagte sie. »Dann kommst du in die vorletzte Klasse, stimmt’s?«
    »Ja.« Wenn sie ein Gespräch über tote Väter vermeiden wollte, sollte mir das nur recht sein. In der Klinik hatten Val, Jake und ich es auch immer so gemacht, dass wir über etwas Belangloses redeten, wenn wir ein ganz bestimmtes Thema umgehen wollten. Wenn jemand kurz davor war zusammenzubrechen, hörte man es seiner Stimme an, die dann irgendwie gepresst und unnatürlich klang. Vielleicht war das der Grund, warum Nicki all diesen Saft in sich hineinschüttete.
    »Hast du eigentlich was vom Unterricht verpasst, als du … du weißt schon … in der Klinik warst?«, fragte sie.
    »Hauptsächlich die Abschlussprüfungen. Die habe ich dann später im Sommer nachgeholt, so musste ich die Klasse nicht noch mal machen.«
    »Mit wem hängst du in der Schule denn so rum?«
    »So richtig eigentlich mit niemand.«
    Sie schlürfte den Rest ihres Saftes. »Hast du keine Freunde?«
    Ich kannte zwar einige andere Schüler, aber dass ich an dieser Schule Freunde hatte, konnte ich nicht behaupten. Woran das lag, wusste ich nicht genau. Dachte ich etwa, sie

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