Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer R. Hubbard
Vom Netzwerk:
Kopfschmerztabletten gefunden, viel mehr, als ich gegen Kopfschmerzen bräuchte, und viel mehr, als ich bräuchte, um mich umzubringen. Sie fragte, warum ich die Tabletten gehortet hatte.
    Ich wusste, dass ich mich mit den Medikamenten umbringen konnte. Gekauft hatte ich sie, weil ich mich jedes Mal, wenn ich eine neue Flasche erstand, gleich ein bisschen besser fühlte. Zumindest eine Zeit lang. Aber genommen hatte ich nichts davon, weil ich wusste, dass eine Überdosis meine Leber zerstören würde, und ich keine Lust hatte, mit einer verkorksten Leber weiterzuleben, falls der Versuch misslang.
    Nicht dass ich der Psychologin irgendwas von alldem erzählt hätte. Als sie mich nach den Tabletten fragte, sagte ich, dass ich mir ständig eine neue Flasche kaufen würde, weil ich immer vergaß, dass ich schon welche hatte. Daraufhin wollte sie wissen, warum ich die Flaschen unter dem Bett versteckt hatte. Nicht versteckt, sagte ich, ich hab sie dort nur aufbewahrt. Sie schaffte es, nicht die Augen zu verdrehen.
    Später an jenem Tag, nachdem meine Eltern mit Gott weiß wie vielen Kliniken und der Versicherungsgesellschaft telefoniert hatten, überwies man mich ins Patterson Hospital, nicht weit von Seaton entfernt.
    »Wir können von Glück sagen, dass es hier in der Nähe solch eine gute Einrichtung für Teenager gibt«, meinte meine Mutter, als meine Eltern mich hinbrachten.
    »Stimmt«, erwiderte ich. »Weil es hier glücklicherweise solch einen hohen Prozentsatz durchgeknallter Teenager gibt.«
    Sie fuhr herum und hob die Hand. Meine Eltern hatten mich ungefähr seit meinem fünften Lebensjahr nicht mehr geschlagen. Davor hatten sie mir ab und zu einen Klaps auf den Hintern gegeben, zum Beispiel wenn ich die Wände mit Ketchup beschmiert hatte. Ich schloss die Augen und wartete auf die Ohrfeige, die aber nicht kam. Stattdessen brach meine Mutter in Tränen aus und krümmte sich schluchzend auf dem Vordersitz zusammen, wobei sie ihre Hände und ihren Ärmel mit Lippenstift und schwarzer Wimperntusche beschmierte.
    »Nicht doch, Anne«, sagte mein Vater, indem er ihr die Schulter tätschelte, »es kommt schon alles in Ordnung.« Er drehte den Kopf hin und her, um festzustellen, wie dicht der Verkehr auf den anderen Fahrspuren war, und versuchte, rechts ranzufahren, was ihm aber nicht gelang. Die anderen Autofahrer rasten weiter und drückten wie wild auf die Hupe, sobald unser Wagen Anstalten machte auszuscheren.
    »Verdammt noch mal«, sagte mein Vater, als wir von einem weiteren Auto angehupt wurden. Mom schluchzte und schniefte. »Anne, hilf mir doch mal ein bisschen und sag mir, wann die Straße frei ist. Anne!«, fuhr er mit erhobener Stimme fort. »Ich brauche deine Hilfe.«
    Meine Mutter flennte weiter, während unser Auto mit hundert Stundenkilometern dahinraste, weil niemand uns vorbeiließ, damit wir anhalten konnten.
    »Anne, könntest du dich für ein paar Minuten zusammenreißen?«
    »Ich werd’s versuchen.«
    »Könntest du einfach …«
    »Vergiss es!« Sie setzte sich gerade hin. Auf ihren Wangen schimmerten schwarze Streifen. »Niemand wird dich rüberfahren lassen, weil den Leuten scheißegal ist, was andern passiert. Selbst wenn unsere Köpfe in Flammen stünden, würde niemand sein Tempo drosseln, damit wir die Spur wechseln können. Fahr einfach weiter, Harry.«
    »Wenn du haltmachen willst …«
    »Nein. Mir geht’s bestens.« Sie starrte durch die Windschutzscheibe hinaus. Die feuchten verschmierten Flecken in ihrem Gesicht trockneten allmählich ein. »Fahr nur weiter.«
    Ich beobachtete meine Eltern und wusste, dass ich etwas empfinden müsste, doch da war nichts – nichts außer der Glasscheibe, dem schwarzen Loch, das heißt das, wofür ich nie die richtige Bezeichnung finden konnte. Das, was nicht hätte da sein dürfen, weil ich ein gesunder Junge aus guter Familie war. Ein Junge, dessen Mutter ihm noch nicht einmal dann eine Ohrfeige gab, wenn er sie provozierte, ein Junge, dessen Eltern ihn gerade in eine sündhaft teure Klinik brachten, um ihm das Leben zu retten, obwohl er sich gar nicht retten lassen wollte.
    »Warum hast du nicht mit jemandem gesprochen, als du merktest, dass du Probleme hast?«, fragte Nicki.
    »Mit wem denn?«
    »Zum Beispiel mit deinen Eltern.«
    »Und was hätte ich denen sagen sollen? Dass ich das Gefühl habe, hinter Glas zu leben? Hätte sich doch total beknackt angehört.«
    »Wenn du ihnen erzählt hättest, dass du mit dem Gedanken spielst, dich

Weitere Kostenlose Bücher