Atme nicht
immer ausgemalt, was wir mit dem Geld alles machen würden, bloß dass er praktisch nie gewonnen hat. Nur einmal fünfzig Dollar. Damit sind wir schick essen gegangen, und ich habe mir zum Nachtisch Crème brulée bestellt, weil sich das so exotisch anhörte.«
Ich stützte mein Kinn in die Hände. »Und sonst?« Ein bisschen kam ich mir dabei vor wie Dr. Briggs. Es war schön, zur Abwechslung mal zuhören zu können, statt mir selbst Gesprächsthemen aus dem Hirn kratzen zu müssen.
»Er hat sich ständig mit Mom gestritten. Wegen Geld und weil er immer bis spät in die Nacht mit seinen Kumpels zusammen war.« Sie versuchte, die Schale zum Kreiseln zu bringen, was auf dem Teppichboden aber nicht klappte. »Er hat nie von Selbstmord gesprochen. Soviel ich weiß.«
Ich hatte auch nie davon gesprochen – zumindest nicht vorher.
Sie sah zu mir hoch. »Er hat sich im Wald hinter unserm Haus erschossen. Mein Bruder Matt und ich haben ihn gefunden.«
Mein Magen krampfte sich zusammen. Sofort sah ich im Geiste Blut, Hirnmasse und zerschmetterte Knochen vor mir und gab mir alle Mühe, dieses Bild zu verdrängen. Jemanden zu finden, der sich erschossen hatte, stellte ich mir entsetzlich vor – und dann auch noch den eigenen Vater. Und zuvor hatte sie ja schon mit angesehen, wie dieser Junge am Wasserfall ertrunken war. Wie hatte sie es bloß geschafft, fünfzehn zu werden, ohne einen seelischen Knacks zu bekommen, ohne in einer Anstalt wie dem Patterson Hospital zu landen? »Das tut mir leid, Nicki.«
»Du hast gut reden. Wer hätte dich denn gefunden?«
»Wir sprechen hier nicht von mir.«
»Ich will doch nur wissen, warum er es getan hat.« Sie sah mich unverwandt an. »Warum hast du es denn getan? Und jetzt sag bloß nicht, du bist nicht mein Dad, weil mir das nämlich egal ist. Der ist nicht hier, aber du bist hier.«
»Warum fragst du nicht deine Mom? Ich kannte deinen Dad doch gar nicht.«
»Sie kann nicht über ihn sprechen. Wenn man das Thema auch nur antippt, sieht sie im Gesicht gleich ganz grün aus. Und außerdem kennst du ihn ja doch irgendwie – ich meine, du weißt etwas über ihn, das sonst niemand weiß. Nämlich wie es ist, sich so zu fühlen.«
Ich holte tief Luft.
»Erzähl es mir«, sagte sie.
Vielleicht hätte ich ihr diese Bitte abgeschlagen, wenn wir nicht zusammen bei Andrea gewesen wären. Wenn ich nicht versucht hätte, Andrea zu helfen, den Geist von Nickis Vater heraufzubeschwören, wenn ich Nicki nicht hätte weinen sehen, wenn sie vorhin nicht mit mir herumgealbert hätte, als wäre ich ein normaler Mensch und kein labiler Psycho. Wenn sie ihren toten Vater nicht gefunden hätte.
Doch all diese Dinge waren geschehen. Deshalb holte ich noch einmal tief Luft und fing an zu erzählen.
Als wir in dieses Haus zogen, das Traumhaus meiner Mutter, war ich erst seit einem halben Jahr auf der Highschool. Ich war noch nie zuvor an einer Schule der Neue gewesen und wusste nicht, wie merkwürdig es ist, wenn man noch nicht mal den Weg zur Toilette kennt – ganz zu schweigen davon, dass man keinen Schimmer hat, wo die »angesagten« Tische in der Cafeteria und die »angesagten« Sitze im Schulbus sind. Wenn man neu ist, ist man echt allein.
Weil ich nicht wusste, wann sich das Baseballteam traf, verpasste ich das Testspiel. Als ich mit dem Coach sprach, erlaubte er mir, am Training teilzunehmen und ihm zu zeigen, was ich auf dem Kasten hatte. Doch bevor es dazu kam, fing das Haus an, undicht zu werden.
Es geschah während der Märzstürme, bei denen es schüttete, als stünde unser Haus direkt unter dem Wasserfall. Durch die Fenster sickerte Wasser herein, durchs Dach ebenfalls. Eines Nachts blitzte und donnerte es ohne Unterbrechung, während wir ihm Haus herumrannten, um überall Gefäße aufzustellen, die den Regen auffangen sollten. Ich musste lachen, weil dieses todschicke Haus, von dem meine Mutter wie besessen war, so schlampig zusammengeschustert worden war, dass es buchstäblich aus den Fugen ging.
»Da gibt es überhaupt nichts zu lachen!«, schnauzte meine Mutter, während sie Handtücher auf dem Boden ausbreitete, um die Pfützen aufzuwischen, die sich schon überall gebildet hatten.
»Das ist doch verrückt«, stieß ich hervor. Ich konnte es nicht fassen, dass sie die Ironie des Ganzen noch nicht mal ansatzweise sah und nicht den geringsten Galgenhumor dafür aufbrachte, dass wir hier wie die Blöden herumrannten und versuchten, jeden neuen Miniwasserfall aufzufangen.
Weitere Kostenlose Bücher