Atme - wenn du kannst!
Emily wusste es nicht. Aber sie musste die Vergangenheit begraben, wenn sie jemals wieder glücklich werden wollte.
2. KAPITEL
Emilys düstere Laune verbesserte sich schlagartig, als der Greyhound-Bus die Stadtgrenze von Flamingo erreichte. Emily fand es lustig, dass der Ort nach den storchartigen rosa Vögeln benannt war, die sie schon als Kind geliebt hatte. Wie konnte man schlechter Stimmung sein, wenn man ein Städtchen namens Flamingo erreichte?
Doch hauptsächlich war Emily gut drauf, weil ihre Tauchferien in greifbare Nähe rückten. Während der stundenlangen Fahrt im Überlandbus von Orlando nach Flamingo war sie immer wieder von ihren Ängsten und Sorgen geplagt worden. In der Nacht zuvor hatte Emily davon geträumt, in der Todeszelle zu sitzen. Dann war sie von bewaffneten Wärtern abgeholt worden, die sie zu ihrer Hinrichtung bringen wollten. In ihrem Albtraum hatte man sie auf einem hölzernen Lehnstuhl festgeschnallt. Doch bevor die Spritze mit dem tödlichen Gift in ihren Arm gejagt wurde, war Emily schreiend aufgewacht.
Die Mordanklage hatte sie seelisch doch mehr belastet, als sie es sich eingestehen wollte. Vom Verstand her wusste Emily, dass die Polizei nur sehr dürftige Beweise gegen sie in der Hand hatte. Trotzdem war ihr fast die ganze Fahrt von ihren Ängsten vermiest worden.
Aber daran dachte sie nicht mehr, als der Bus sich langsam der Endstation näherte und schließlich zum Halten kam.
„Flamingo, Florida, alles aussteigen!“, rief der Fahrer.
Das ließ sich Emily nicht zweimal sagen. Sie griff nach ihrer Reisetasche und sprang hinaus in den hellen Sonnenschein. Da sie in Florida geboren und aufgewachsen war, überraschte sie das schöne Wetter nicht. Doch es kam ihr so vor, als ob es hier am Meer noch wärmer und schöner war als in ihrer Heimatstadt, die tiefer im Landesinneren lag.
Tatendurstig schlenderte Emily hinunter zum Hafen. Es war nicht wirklich schwer, sich in dem kleinen Ort zurechtzufinden. Außerdem hatte Emily sich bereits im Internet angeschaut, in welche Richtung sie gehen musste. Flamingo verdankte seine Existenz vermutlich hauptsächlich dem Hafen, der heutzutage nur noch von Segelbooten und Motorjachten angesteuert wurde. Jedenfalls konnte Emily keine Frachter oder Kriegsschiffe erkennen, als sie wenig später den Pier erreichte. Lediglich ein Patrouillenboot der US Coast Guard tuckerte gerade langsam aufs offene Meer hinaus.
Emily brauchte nicht lange, bis sie das Boot der Tauchschule gefunden hatte. Die Fortuna lag fast am Ende des Piers. Sie war eine blütenweiße Motorjacht mit Platz für maximal zehn Personen an Bord. Emily lächelte, als sie den in goldfarbenen Buchstaben ans Heck gemalten Schiffsnamen sah. Fortuna, die römische Glücksgöttin. Emily hoffte, dass auch ihre Pechsträhne nun ein Ende haben würde.
Sie ging an Bord und wurde sofort von einem alten Schwarzen begrüßt, der gerade das Deck wischte. Er war so herzlich zu ihr, als ob er Emily schon seit ewigen Zeiten kennen würde.
„Willkommen auf der Fortuna, kleine Miss! Ich bin Sam – Matrose, Koch, Animateur, Tauchassistent, Maschinist und Seelentröster in einer Person. Die Mannschaft der Fortuna besteht sozusagen aus mir. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
Emily lächelte Sam an und nannte ihren Namen. Er gab ihr die Hand.
„Emily Price also. Hier an Bord reden wir uns alle mit dem Vornamen an. Deine Kabinen-Kameradinnen sind auch schon eingetroffen und richten sich gerade häuslich ein. Nur Mr Kendall möchte mit seinem Nachnamen angesprochen werden. Aber das ist schon okay, denn er ist ja der Skipper und Tauchlehrer und überhaupt der einzige Mann mit Durchblick auf der Fortuna. “
„Was spinnst du da schon wieder für Seemannsgarn, Sam?“
Ein Mann war hinter Emily aus der Kabine getreten. Sie hatte ihn nicht kommen hören und zuckte deshalb erschrocken zusammen. Jetzt drehte Emily sich zu ihm um.
Der Mann war schätzungsweise zwischen vierzig und fünfzig, hochgewachsen und athletisch. Er trug Jeans und ein dunkelblaues T-Shirt mit der Aufschrift DIVING SCHOOL KENDALL. Das Haar und der Vollbart waren von einem ergrauenden Blond, die Haut war sonnengebräunt. Ein strenger Ausdruck lag in seinen blauen Augen, doch seine Lachfältchen bewiesen, dass er auch lockerer sein konnte.
„Ich bin Kapitän Ralph Kendall, der Inhaber dieser Tauchschule“, stellte er sich selbst vor.
„Emily Price.“
Sie gaben sich die Hand. Bildete Emily es sich nur ein, oder schaute
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