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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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Aggregat schaukelten die beleuchteten Wagen über die Weichen. Der Mensch im Lokstand konnte mich in meinem Versteck nicht sehen. Ich würde ihn überraschen und mit in den Abgrund reißen. Selbst jetzt musste ich an die anderen denken. Und dann Bilder von Lio, mit sandverkrusteter Rotzspur im Gesicht, eine bröselige Schliere vom Nasenloch bis ans Ohr, die Sternenhände zu mir hochgestreckt, dann das Windelpaket in meinem Nacken und ihr leiser, aus nur zwei Tönen bestehender Gesang, während sie mir mit den immer gleichen kreisenden Bewegungen übers Haar wischt. Die drei Lichter glitten auf mich zu, geräuschlos, ungehindert, ungebremst, ich wartete noch wenige Sekunden, das war er, das war mein Augenblick, endlich gelang es mir zu entkommen, es war eine alte Diesellok der Schweizerischen Bundesbahnen, achtzig Tonnen mindestens, in verwaschenem Rot, über deren rechteckiges Gesicht eine silbernes Lachen ging, mit Schweizerkreuz mittendrin, Pantone 186 C, dachte ich, doch jetzt, bei Dunkelheit, fast 1807 C, und schüttelte die Beine wie der Läufer vor dem Sprint und dachte noch, wie gut, dass du die Sneakers angezogen hast, schob mich aus meinem Versteck und lief in langen Schritten auf die drei Augen zu, das silberne Lachen, das dunkle Band des Führerstands, in dem, sehr schwach erhellt von den Kontrollleuchten, der Kopf des Lokführers zu sehen war, er trug die dunkle Schildmütze, darunter quoll in weißen Schichten sein langes Haar hervor, es war die Gestalt aus den Bergen, und sie hatte wieder mein Gesicht. Als sich unsere Blicke trafen, nahm ich einen tiefen Atemzug und sprang.

SEQUEL
    Achtundzwanzig. Stille für achtundzwanzig Stunden. Kein Molekül rührt sich. Es arbeitet kein Nukleotid, kein Nukleosid. Phosphor, Zucker, Wasserstoffbrücken. Sie alle besinnen sich. Ist bei der Teilung die Unordnung entstanden? Mei. Im Ei. In der zweiten Meiosenteilung. Ja, die vier Chromosomen verteilten sich nicht geschmeidig. Andere konnten es. Wir nicht. Es muss nicht in der Meiosenteilung passiert sein, als aus einem zwei, aus zweien vier wurden. Und vier mal sieben Tage, eine Mondphase lang, gewartet und auf den pelzigen Wedeln hinabgespült und in ein Schwarz gefallen. Und alle Basen so vereinzelt jetzt, diese Brücken, so wenig stabil, wir wussten es, waren aus Wasserstoff, sind weggespritzt, und C und G und A und T noch an den zuckrigen Holmen der Phosphorsäuren festgeklammert, jedes für sich allein und ohne Halt. Wir wissen, das Verringern, das Verkleinern, das rhetorische Stilmittel der ironischen Untertreibung, die Meiose, Reduktionsteilung, geschieht in sieben Stadien, wir kennen das. Wir reduzieren uns, wir kombinieren neu. Eins geben, zwei nehmen, da anknüpfen, dort abzwicken, wir verdoppeln, verbinden, tauschen aus, erfinden uns nach dem Zufallsprinzip neu. Alle strecken sich, legen sich nah zueinander und verschränken sich, ein Reißverschlussfeiserschluss, gleich zu gleich, der fadenförmigen Proteinachsen, ein Leiterchen mit Millionen Tritten steigt aus dem Traumgespinst verschlungener Chromosomenfäden in den Himmel, und auf ihm klettern die geflügelten Kinder aus der Familie der Dysmorphiesyndrome auf und ab, kleine Zyklopen mit offenem Rücken, wässrigen Nackenfalten, sechsfingrigen Rosenblütenhänden, nackte Mikrozephali mit gespaltenen Lippen, verschieftem Becken, mongoloiden und antimongoloiden Lidachsen, all die schmalen Schnabelgaumen, in denen die Milchzähne dicht an dicht wie schiefe Palisaden stehen, Millionen kleine Totgeburten ohne Hirn, Herz, Lunge, Leber, auf dem Weg in den Limbus infantorum, kraxeln, humpeln, hieven sich behände, Tritt für Tritt nach oben, dort hat man sie noch nicht erwartet und schickt sie wieder weg, so entsteht ein Auf und Ab, ein wogendes Steigen und Fallen auf der Himmelsleiter, dem synaptischen Komplex, bevor das Diplotän anbricht und sich die Holmen trennen und alle auf die Erde fallen, in das jetzt ruhende Gespinst der Chromosomenfäden, so weich, und beginnen sich rhythmisch zusammenzuziehen, um dann wieder zu ruhen. Die Engelkrüppel liegen still, der eine oder andere schläft ein bisschen, bevor die Schnürungen beginnen, aus eins mach vier, und es ans Abschiednehmen geht und jeder sich für einen Gametenplaneten entscheiden muss. Das wissen sie aber noch nicht. Noch klettern sie auf und ab wie auf dem Spielgerüst hinter dem Sonderkindergarten, dem mit blauen, gelben, roten Holmen, hinaufklettern, im Bogen über den Scheitelpunkt und auf der

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