Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
dann ist Gine vom Turnen zurück.«
»Vom Turnen. Aha«, und dann sehr leise zu Pauli: »Wers glaubt.«
»Ist gut, vielen Dank«, sagte Pauli hastig und zog mich weg.
»Wartet.« Frau Huber griff in das Glas mit den Gummischlangen. Zwischen ihren weißlichen Fingern quollen die klebrigen bunten Gelatinewürmer hervor. » Hier, für euch.« Sie steckte die Schlangen in eine Tüte. Wir schnappten sie und huschten davon.
»Vom Turnen zurück«, sagte ich mit der Stimme der Huber, als wir uns auf die Badetücher warfen. »Dabei weiß doch jeder, dass Gine zweimal in der Woche zur Krankengymnastik muss. Turnen, dass ich nicht lache. Hast du mal gesehen, wie die am Stufenbarren hängt und Hüftaufschwung versucht, fett, wie die ist?«
»Hm«, sagte Pauline unbestimmt und hielt einen Gummiwurm über sich, zirkelte ihn in den Mund und schlurpte ihn hinein. Dann sagte sie nichts mehr, und ich wurde unsicher. Ich riss Grashalme aus und legte sie zu einem Scheiterhaufen übereinander. Auf einmal fiel ein Schatten auf uns, es war Gines. Breitbeinig stand sie da und stemmte die Fäuste in die Seite.
»Gib mir meine Strickjacke wieder.« Sie schien nur mit mir zu sprechen.
»Hi, Gine, wie schön, dich zu sehen.« Ich strahlte sie an und lud sie ein, sich zu uns zu setzen.
»Gib mir meine Strickjacke wieder.«
»Aber he, du hast ja deine Badesachen nicht mit, willst du nicht mit uns in der Sonne sitzen und im Wasser schwimmen?« Pauline sah mich verständnislos an und kramte die Tüte mit der Strickjacke hervor. Ich nahm sie ihr ab.
»Hier, Gine, setz dich.« Zögernd hockte sich Gine ins Gras vor meinem Tuch.
»Gib mir meine Strickjacke wieder.«
Ich sah in die Tüte.
»Gern, aber vorher musst du mir meine Kassette wiedergeben.« Pauline sah mich an und schüttelte den Kopf.
»Keine Kassette.«
»Du hast die Kassette nicht mehr? Das ist aber schlimm. Wirklich schlimm. Uriah Heep, die hat dir so gefallen, aber sie gehört nun mal mir, und jetzt will ich sie zurück.«
»Keine Kassette. Strickjacke«, wiederholte Gine.
»Tja, keine Kassette, keine Strickjacke, Gine.«
Sie verzog das Gesicht. »Mu hoam.«
»Ja, geh zur Mama, Gine, und wenn du die Kassette gefunden hast, kommst du wieder, wenn nicht, musst du mir was anderes dafür bringen.« Gine sah mich verständnislos an. »Du kannst sie mit den Sachen aus dem Laden deiner Mama abbezahlen. Zuerst bringst du uns eine Flasche Bier und eine Packung Zigaretten. Dann sehen wir weiter.« Gine rannte weg.
Pauline sprang auf, riss mir die Tüte aus der Hand. »Du hast ihr die Kassette nicht geliehen«, schrie sie. Ich lachte. Doch als ich sie mit Gine sah, der sie den Arm um die Schulter legte, um sie zu trösten, der sie die Wange streichelte, und der sie schließlich die Jacke um die Schultern legte, wurde ich wütend. Soll sie doch mit Gine gehen. Soll sie doch nach Konolfingen gehen, wo der Pfeffer wächst.
»Warum erzählst du mir das alles?«, fragte ich.
Josefine lag in meinem Arm, die Hand auf meiner Brust. Jetzt stemmte sie sich auf und sah mich an.
»Es war deine Idee! Etwas erzählen, das wir bereuen. Nein, nicht nur bereuen, für das wir uns schämen.«
»Und wofür schämst du dich?« Ich fragte, um Zeit zu gewinnen. Sie wickelte sich in das Laken und zog die Knie an.
»Dafür, dass ich eine Schwache geplagt und meine beste Freundin verraten habe. Für den Verlust der Freundschaft. Aber ich habe zu viel geredet. Jetzt du. Erzähl du mir etwas von dir.«
Ich setzte mich auf und stellte achtsam, als täte ich es zum ersten Mal, die Füße auf den Boden. Es war ein Flokati, dessen lange Fransen meine Sohlen kitzelten.
»Wie alt warst du damals?« Ich fragte beiläufig, als wäre nichts dabei, und war froh, dass sie mein Gesicht nicht sah.
»Keine Ahnung, zehn, zwölf? Warte, nein, als ich zwölf war, war Pauline schon weggezogen. Also zehn oder elf. Sommer 76.«
»Und? Ist Pauline weggezogen?«
»Ja, ihre Mutter war Schweizerin und wollte zurück, nachdem der Vater, ein Norddeutscher, sich von ihr getrennt hatte.« Josefine legte mir eine Hand zwischen die Schulterblätter.
»Ist was?«
Der Flokati kitzelte. Zum ersten Mal. Mit den Sohlen das helle Wollgestrüpp berühren. Stand gewinnen. Zum letzten Mal.
»Alles okay.«
Die Tür durchschreiten, auf dem kalten Rand der Badewanne hocken, das Fliesenmuster anschauen. In die Jeans steigen, das Hemd knöpfen, die Haare bürsten. Zahnbürste und Duschgel, alles in die Tasche werfen. Zurück ins
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