Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
anderen Seite wieder hinab bis in den Sand des Spielplatzes, wo das Seepferd vor dem Klettergerät steht und auf den ersten Quertritt steigt, sich festklammernd umdreht, »Schau Mamalio, schau!«. So weit sind wir noch nicht.
27
Die Wohnung war leer und aufgeräumt, als ich nach Hause kam. Sie schien mir groß ohne Lio. Leer mein Arbeitsplatz, die Stifte und Farbflaschen in den Schubladen verräumt, die Gummikrümel weggefegt, die Zeichnungen und Skizzen in Projektmappen abgelegt und beschriftet. Das dunkle Glas des Röhrenbildschirms reflektierte meinen Eierkopf. Ich folgte den hellen Parkettfugen, in die Lio das Deckweiß verrieben hatte, in die Küche. Alles Geschirr abgewaschen und verräumt, der Mülleimer gähnte leer, Flaschen, Altpapier, Karton, alles hatte ich vor meiner Abreise weggebracht, gebündelt, an den Straßenrand gestellt. Noch in Mantel und Schuhen ging ich in Lios Zimmer, wo es nach dem Nachtschlaf kleiner Mädchen roch, süß und ein bisschen abgestanden, wie Pfirsiche, kurz bevor sie zu schimmeln beginnen. Ich schlug ihre Bettdecke zurück und nahm das gelbe Lammfell an mich, auf dem sie schlief. Ich legte mich in mein Bett, den Kopf auf Lios Fell, zog das raschelnde Deckbett über mich. Ich muss das Kind zurückholen. Ich muss mir Gewissheit verschaffen. Als hätte jemand den Schalter umgelegt, verließ mich mein Bewusstsein. Das Telefon weckte mich.
»Ich will eine Erklärung von dir.« Es war Josefine.
»Da gibt es nichts zu erklären«, log ich. »Es geht einfach nicht. Ich kann das nicht.« Mein Atem roch nach Schlaf und schlechter Laune.
»Aha. So plötzlich.«
Ich schwieg.
»Ich hab das nicht verdient«, sagte sie selbstbewusst, »dass du so mit mir umgehst.«
»Eins interessiert mich noch. Hast du deine Freundin je wiedergesehen?«
Sie stutzte.
»Wen? Pauline? Ja, warum?«
»Es interessiert mich einfach«, sagte ich lahm.
»Lenk nicht ab. Ich bin sauer und will nicht über meine Freundinnen reden.«
Gewissheit. Ich musste Gewissheit haben.
»Bitte, es ist wichtig.«
»Warum?«
»Kann ich dir nicht sagen.« Ich stockte und hörte selbst die Verzweiflung in meiner Stimme. Ein verbissenes Verlangen nach Aufklärung, das auch Josefine hören musste.
»Ja, ein paar Mal eher zufällig, dann ist der Kontakt abgerissen, bis sie irgendwann plötzlich vorbeikam, völlig abgerissen, und nicht wusste wohin. Sie blieb ein paar Nächte bei mir, verpflegte sich, lieh sich Geld und verschwand so unvermittelt, wie sie aufgetaucht war. Seither habe ich nichts mehr von ihr gehört.«
»Wann war das?«
»Im Herbst letztes Jahr, glaub ich. Oder vor zwei Jahren? Ich weiß nicht mehr.« Alle meine Vermutungen bestätigten sich, und da es nichts mehr zu sagen gab, legte ich auf. Eine Art Erleichterung breitete sich aus, vermischt mit Bitterkeit. Noch mehrmals klingelte in den nächsten Tagen das Telefon, doch ich nahm nicht ab. Ich setzte mich an den Zeichentisch und entwarf ein Bild von ihr. Im maisgelben Mantel, der im Schritt ein wenig klaffte. Das Gesicht im Profil und den Blick nach hinten gewandt, halb aus der Hüfte gedreht, als sehe sie sich nach jemandem um. Ich rollte Packpapier auf dem Boden aus, schätzte ihre Körpergröße, heftete das Papier an die Wand und malte sie mit Bleistift, konturierte mit schwarzen Pinselstrichen, schattierte mit Kohle, kolorierte mit knalligem Rot und setzte mit Weiß die Lichter in ihr Gesicht, das Haar, die Augen. Dann heftete ich sie hinter meinem Arbeitsstuhl an die Wand. Augenblicklich wurde ich ruhig.
Das Hoffnungsheim wollte Lio so ohne Weiteres nicht wieder hergeben. Immerhin hatten wir einen Betreuungsvertrag, sie rechneten mit den Geldern der Invalidenversicherung, die sie für meine Tochter bekamen – in der Institution war die Hilflosigkeit nicht mehr fraglich, was mir seltsam vorkam. Ich fuhr unangekündigt hin, um sie abzuholen. Die ausgiebigen Ballbäder und nächtlichen Fixierungen ans Bett hatten ihr anscheinend nichts ausgemacht. Sie stapfte auf ihren Säulenbeinen auf mich zu und spreizte die weißlichen Finger, die mir immer wie zu kurz gebackene Weihnachtskekse vorkamen. Der Heimleiter und mehrere Betreuungspersonen wollten mich davon überzeugen, dass das Heim für Lio die besten Entwicklungschancen böte, »besser als bei Ihnen zu Hause, wo sie doch häufig sich selbst überlassen ist«. Zum ersten Mal in meinem Leben übte ich das aus, was man elterliche Gewalt nennt, packte ihre Sachen und fuhr mit ihr nach Hause. Als ich
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