Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
ihr endloses Brabbeln hinter mir hörte, ihre Kolograbsimonologe, wurde mir nicht nur bewusst, wie sehr ich sie vermisst hatte, sondern auch, dass wir zusammengehörten, dass sie vielleicht ohne mich, ich jedoch nicht mehr ohne sie sein konnte, dass das Kind mein Schicksal war und dass ich dem standhalten konnte.
Am nächsten Morgen um sechs brabbelte sie mich wach, ich verfluchte meine pathetischen Anwandlungen vom Vortag und machte mich schlecht gelaunt und unrasiert in der Küche zu schaffen. Das Telefon klingelte, es war die Vormundschaftsbehörde. Augenblicklich packte mich wieder die tödliche Entschlossenheit, das Kind nicht herzugeben. Mithilfe eines Anwalts, den Max mir besorgte, gelang es mir, mein Sorgerecht durchzusetzen und den Vertrag mit dem Heim rückgängig zu machen. Ich fand einen Job als Tellerwäscher im Rossi am Ende der Straße und meldete mich eines Tages in der winzigen Klause von Büro bei meinem grau bezopften Sozialberater ab. Wieder leistete ich Unterschriften, löste Vereinbarungen, erhielt meine Familiendokumente und Lios Geburtsurkunde zurück, Zanotta wünschte alles Gute, ich ging mit Lio in ein Restaurant und bestellte ihr einen Teller Älplermagronen und mir ein Pferdesteak mit Salat. Allmählich strömte die Gewissheit von Freiheit, Privatheit und selbstbestimmtem Leben in mich ein. Alles war möglich. Die zweite Graphic Novel, das Überleben als Zeichner, das Leben mit dem Kind, ich würde es herausfinden: das Geheimnis der Vaterschaft. Nicht nur das, ich würde es erfinden: das Leben als Muttermann.
Als Erstes erteilte ich mir ein Denkverbot und den Befehl, einfach weiterzumachen. Einfach weitermachen, Tag für Tag, das Tempo aufrechterhalten, um nicht umzufallen, wie ein Kreisel, der den Schwung verloren hat. Nacht für Nacht schuftete ich im Rossi, während Paul, der bei mir eingezogen war, sich um Lio kümmerte. Wenn alle weg waren, die Küche leer, putzte ich noch den Fußboden, wischte die Chromstahltische blank, kontrollierte die Pfannen, Gerätschaften und Schichtungen der Teller in den Schränken, blass wie Blätterteig, dann löschte ich die Lichter, schloss die Türen ab und ging. Drei Stunden später rappelte ich mich aus dem Bett, kleidete das Kind » witterungsgerecht«. Der Schulbus nahm es mit in einen Hort im Norden der Stadt. Kaum hatte ich sie um halb sieben ins Auto gesetzt, legte ich mich wieder ins Bett und schlief bis nach Mittag, erledigte den Haushalt, zahlte Rechnungen, wusch, putzte, kaufte ein, schrieb Mails und Briefe, akquirierte Kunden, erledigte deren langweilige Aufträge. Wir aßen, wenn sie nach Hause kam, ich fütterte, wusch und wickelte sie und bürstete die Zähne, ich schnitt die Haare, Finger-, Fußnägel und putzte Ohren aus, ich zog sie an und um und legte sie ins Bett. Wir taten nicht, was andere Eltern tun: Geschichten lesen, spielen, die Welt erklären, den Zoo besuchen, Karussell fahren, Drachen steigen lassen, all das Zeug. Wir lebten funktionsweise dahin. Nur dann und wann, an den Wochenenden, lud ich das Kind in das Auto, das ich mir angeschafft hatte, und fuhr immer eine andere Strecke, immer ohne Ziel, bog irgendwo ab und landete am See oder in einem der puppenstubenhaft blank geputzten Dörfer in den Bergen oder im Gewerbegebiet eines Weilers im Mittelland, zwischen Möbelhäusern, Schuhgroßmärkten, Gartencentern und Elektronikdiscountern. Das Kind schimpfte seine Liomonologe. Ohne Inhalt, ohne Ziel, während wir in der Landschaft herumliefen. Wenn sie genug hatte, ließ sie sich fallen, lag auf dem Bauch mit angelegten Armen, die Wange an der Erde, als ob sie schlafen wollte. Dann lud ich sie auf meinen Rücken und schleppte sie wie einen Kartoffelsack zum Auto zurück. Immer hatte ich einen Rucksack mit Wasserflaschen, Bratwürsten, Kohleanzündern, Taschenmesser, Ersatzkleidern, Windeln, Feuchttüchern und einer Wolldecke dabei. Wir hockten stumm an Feuerstellen, in Unterständen, Wartehäuschen oder im Auto und stärkten uns. So trotzten wir der unwirtlichen Außenwelt. Und immer hatte ich einen Skizzenblock und Bleistifte dabei, und um mich nicht zu Tode zu langweilen, zeichnete ich. Fahrige Karikaturen unserer Erlebnisse, sie stapelten sich zu Hause auf dem Zeichentisch und in den Schubladen.
Nie mehr hatte ich von Josefine gehört. Das helle Laken, die schwarz getuschte Kontur ihres Körpers, die weichen Zipfel des Flokatiteppichs an meinen Füßen, ihre Hand an meiner Leiste, auf meinem Hintern. Wie sie zupackte
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