Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
und mich an sich drückte, mich tiefer in sich hineinschob. Ihr Blick wie dunkle Tiefseeschnecken, als ich vor ihr stand mit der Tasche über der Schulter und der Gier im Blick, der Lust alles fallen zu lassen und mich wieder zu ihr zu legen. Ich verbot mir, an sie zu denken, und redete mir ein, ich hätte ein gutes Leben. Ich wollte nicht glücklich, nur zufrieden sein. Einigermaßen. So sagte ich mir: Du hast eine Aufgabe, und zwang mich, es zu glauben.
Nacht für Nacht kamen die drei Augen des Zugs auf mich zu, Nacht für Nacht sprang ich ihnen entgegen, wurde überrollt und erwachte frisch und gestärkt. Etwas, ich kann nicht sagen, dass ich es war, ja nicht einmal, dass es ein Teil von mir war, hatte entschieden, das Kind nicht zu verlassen. Doch es gab Tage, an denen ich mich lall und taub, in einem wattigen Zustand der Willenlosigkeit in die Wohnung schleppte und aufs Bett legte, wo ich mich nicht bewegte, nur um nicht auf eine Brücke oder unter einen Zug zu geraten oder in ein Kaufhaus, wo es Rasierklingen, Japanmesser, Cutter, Teppichschneider gab. In der Wohnung hatte ich derlei Versuchungen vernichtet. Hier war ich sicher. Nicht, dass ich es gewollt hätte. Ich rechnete nach der Nacht an den Gleisen einfach damit, dass es mir widerfahren könnte wie ein Fahrradunfall. Unbemerkt, in einem Augenblick der Schwäche. Dass es über mich kommen könnte wie ein Regenguss oder mich erfassen wie eine Windböe. Postkarten kamen von allen Küsten Europas. Jedes Jahr Anfang April eine. Belanglose Worte zu Lios Geburtstag. Ich hob eine der Dielen in meinem Arbeitszimmer und versenkte die Karten zwischen den Deckweißkrümeln, die Lio in die Ritzen geschmiert hatte. Noch jahrelang absolvierten wir Therapien, Fördermaßnahmen und viele, viele Arztbesuche. Taxifahrten in die Notfallaufnahme des Krankenhauses, wo Lios Brüche geröntgt und geschient wurden, die Risse in der Kopfschwarte geklammert, Fleischwunden genäht und Verbrennungen bandagiert wurden. Sie war ein unternehmungslustiges Mädchen. Jedes Mal wurde ich länger und detaillierter zum Unfallhergang befragt, während Lio mit blutverschmierten Haaren und Kleidern hin und her tappte und jeden anstrahlte, der ihr entgegenkam. In dieser Zeit stellte ich noch einmal einen Antrag, um die Hilflosigkeit, die uns anhaftete, entschädigt zu bekommen, und dieses Mal klappte es. Ich gab den Tellerwäscherjob auf. Immer und überall zeichnete ich Begebenheiten aus unserem seltsamen Leben, Lio, wie ich sie sah. Irgendwann, so dachte ich, werde ich den Zellkernband konzipieren und zeichnen. Das Chromosom, ein kleines, krummes Stäbchen, starrte mit fischigen Glubschaugen verständnislos in die Welt, während sein siamesischer Zwilling, mit dem es ständig im Streit lag, durch sein Monokel auf es herunterblickte.
Ein tiefes, durchdringendes Vibrieren, als der Wagen nach rechts zieht, und die durchgezogene Linie zum Standstreifen überfährt. Ich fange ihn ab und bremse mit einem Ruck. Still. Durchatmen. Kind Gottes in der Hutschachtel. Es ist nicht mehr zu schaffen! Das Mädchen räumt seine Tasche ein, hebt jetzt den Kopf. »Fahr schneller, Konny, immer schneller.« Und wendet sich wieder seinen Habseligkeiten zu. Ich starte den Motor und fädle mich wieder ein. Die Karte Blaugrünweiß. Ostseeküste. Als wollte er meinen Entschluss bekräftigen: ein weiterer Laster mit polnischem Kennzeichen vor mir.
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Ein Schokoladenkäfer und ein rasch gezeichneter Comicstrip waren unsere Geschenke. Wir saßen auf Polsterstühlen um einen Glastisch, acht Kinder, fünf Mütter und ich, und aßen Fair-Trade-Schoggikuchen aus Vollkornmehl, selbst geschnitzte Möhrenstangen und tranken Früchtetee, auf dem Spielplatz dann tauschte man Mutterschaftslegenden aus: Verlauf der Schwangerschaften, vorgeburtliche Untersuchungen, Qualität der Entbindungsstationen, Geburtshäuser, Kreißsäle. CTG , Wasserbecken, Damm- und Kaiserschnitte, geplant und ungeplant, Vorteile der Hausgeburt, Nutzlosigkeit der Väter, der ganze heimliche Wettstreit darüber, wer die dramatischsten Geschichten erzählen konnte. Wann Lea, Timo, Lukas, Lara und Dario gelächelt, den Kopf gehoben, sich aufgesetzt, den ersten Schritt gemacht hatten. Ich stand dabei und schwieg. Ich wurde nichts gefragt, ich hatte nichts zu sagen, wollte meinerseits durch unsere Geschichte den Abstand nicht noch mehr vergrößern, ertrug dieses unmerkliche Zurückweichen und anschließende Schweigen nicht, wenn ich von Lio erzählte. So
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