Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
behindert. So mutterallein. Die Mütter redeten und tranken Latte macchiato aus hohen Gläsern, ich streifte mit Lio in der Trage herum. Sie winkten mir, ich wäre lieber heimgegangen. Ein Kind blies Seifenblasen in die Luft. Sie stiegen in den Sommerhimmel, trugen uns in der Blase der Nichtzugehörigkeit davon. Still war es jetzt, sehr gedämpft kam Drehorgelmusik von weit unter uns, wir schwebten im schillernden Rund und konnten in der Ferne die Berge sehen. Ein Kreischen ließ die Blase platzen. Ein Kind war von der Bank gefallen, man begutachtete die Beule, kramte Pflaster, Desinfektionsspray, Notfalltropfen aus zimmergroßen Umhängetaschen, Tränen wurden abgewischt, die anderen Kinder heulten aus Anteilnahme mit.
Lio sah den Seifenblasen nach. Ich flog dahin, ein Astronaut mit dem Kind als Sauerstofftank auf meinem Rücken. Die Blase um uns changierte in allen Regenbogentönen, und schwerelos wie ein Schiff im All flogen wir über Flusenwolken, die faserig wie Zuckerwatte das Ende des Föhns ankündigten.
Man ging zum Abendessen, zu Tomatenhirse und Gemüselasagne. Ich winkte einen Gruß.
Endlich allein, warf ich Lio in die Luft, setzte mich dann, wie so oft, auf die Schaukel, legte sie auf meinen Bauch, wiegte sie mit eintönigem Brummen, lullte sie in den Schlaf. Die grün durchlichterte Blätterdecke im leisen Schwindel des Auf und Ab. Dunkles Gekrakel der Äste und Zweige vor dem Winterhimmel meiner Erinnerung und Lio, eine Handvoll Mensch auf meinem Bauch, tabakbraunes Laub, der schwarz gefleckte Waldboden, auf dem sich ein bleicher Frauenkörper streckte, Moos und Ameisen, das grüne Wellentuch hob und senkte sich, halb geschlossene Lider, eine ruckartige Drehbewegung und in der Rinne meines Rückgrats jetzt die Schwere des Frauenkörpers und darin, ein Schatten nur, das ungeborene Gewicht des werdenden Kindes. Mein Blick stieg ins vielfach abschattierte Grün der Platanenkronen, es schwappte in weichen Wellenbewegungen vor und zurück, endlos wiegende Schwingungen, während der hellblaue Rauchfaden meiner Zigarette sich in lichten Schlangenbewegungen darin verlor.
Lohengrin Therme. Wieder klebt einer an der hinteren Stoßstange des Volvo. Ein Lieferwagen. Der Fahrer trägt einen Cowboyhut, unter dem die Haarsträhnen wie Schlingpflanzen heraushängen. Er schüttelt den Kopf in rhythmischen Bewegungen. Ich zwinge mich, Tempo zurückzunehmen, mich nicht schieben zu lassen. Das Mädchen packt ein und aus.
»Lio, du kannst das jetzt sein lassen. Deine Sachen brauchst du erst wieder, wenn wir aussteigen. Ich will, dass du damit aufhörst jetzt.«
»Und ich will, dass du freundlich mit mir redest, sonst tut mir mein Herz weh.«
Seufzend drehe ich die Hookywookymusik lauter. Der Cowboy hinter mir nickt im Takt von Lou Reed, als hörte er ihn. And each lover I meet up your roo f /I wouldn’t want to throw him off, mmmm /into the chemical sky, down into the streets to die / Under the wheels of a car on Canal Street. Josefine war in Dessau, und Dessau lag auf der Strecke an die Ostsee. So hatte ich entschieden, zuerst bei ihr haltzumachen, und Max nach ihrer Telefonnummer gefragt, dann jedoch entschieden, einfach hinzufahren, und wenn sie mich nicht sehen wollte, wieder zu gehen. Irgendeine Pension würde schon zu finden sein. Sie hatte ihren Wunsch wahr gemacht und recherchierte für eine Publikation zur Nutzungsgeschichte der Meisterhäuser. Ihre Konsequenz und ihre Beharrlichkeit machten mich klamm. Die undatierten Skizzen, Karikaturen und Comicstrips über Lios und mein Leben auf dem Narrenschiff der Blödigkeit dümpelten in der Plankommode, in zahlreichen Mappen und losen Stapeln dahin, der Gesichtslose verschimmelte in einer Mappe hinter dem Bücherregal. Die Farben waren eingetrocknet, die Pinsel zerrupft, die Bleistifte stumpf, das Deckweiß hatte Lio schon vor Jahren aufgebraucht. Eine reißende Sehnsucht nach meiner Zeichenarbeit erfasste mich und gleichzeitig nach einem Frauenkörper. Nach Josefines Körper. Da stand sie, mit dem Whiskyglas in der Hand. Mit geweiteten Augen und lächelndem Mund vor dem Säugling, der Lio war. Ihr Rücken, halb bedeckt vom Laken. Die dunkle Furche der Wirbelsäule, die sich zwischen den Pobacken verlor. Ihre geschlossenen Augen, ihr halb geöffneter Mund, als wir im Morgendämmer miteinander schliefen. Ihre festen Finger auf meinem Sack.
Hupen hinter mir, die Tachonadel zeigt auf unter hundert, und ich fahre noch immer auf der linken Spur, der Hookywookycowboy
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