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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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dichtauf, drängt mich nach rechts ab. Autobahnkreuz Bayreuth. Großwindanlagen auf den Hügeln im Stillstand. Kilometer 509. Halbzeit. Die Tankanzeige blinkt Reserve. Ich habe Lust auf eine Zigarette. Lust auf eine Frau.
    Eingezwängt in den Kolonnenverkehr, schaffe ich es nicht rechtzeitig, die Spur zu wechseln, und fahre an der Tankstelle vorbei. Laster vor und hinter mir, SUV s in schneller Folge. Ich kann nur dasitzen, den Fuß auf dem Gaspedal, und mich durch den Raum schießen lassen. Von den paar wenigen Pferdestärken des Volvo, von dem plötzlichen Entschluss, quer durch die Republik zu reisen, um das Mädchen wegzubringen. Fünfzig zu fünfzig stehen die Chancen. Fünfzig zu fünfzig, dass das Kind mich weitere achtzehn Jahre auf der Insel der Blödigkeiten gefangen halten wird, dass ich weitere achtzehn Jahre im Zeitlupentempo durch den Schlauch der Abhängigkeiten und Selbstaufgabe gepresst werde. Mit Lio und dem Seepferd im Schlepptau.
    Über die Jahre waren wir aneinander festgewachsen, besser gesagt, ich war an Lio festgewachsen, während Lio sich von mir gelöst hatte, Freundinnen und Freunde gefunden hatte, Kumpels und irgendwo auch einen Geliebten. Mir war entgangen, dass sie eine Frau war, mir war entgangen, dass sie mit einem Mann geschlafen hatte und geschwängert worden war. Von wem? Von Paul etwa, der inzwischen an der Fachhochschule Game Design studierte und uns ab und zu besuchte, auch manchmal bei ihr blieb, wenn ich ins Rossi musste? Eines Nachts hatte ich die beiden auf dem Sofa schlafend gefunden, aneinandergekuschelt, und mir nichts dabei gedacht. Sie mussten eingeschlafen sein, während der Kinderfilm lief, den Lio abends guckte. Raffael, der Stalljunge, ein Downie aus der Therapiereitgruppe? Aber wann und wo? Die Behinderten standen immer unter Aufsicht. Ein Junge aus der Klasse oder, schlimmer noch, ein Lehrer, der Praktikant im Hort? Ein Betreuer im Ferienlager? Ich stellte fest, dass ich mein Kind nicht kannte, ja, dass ich es noch für ein Kind hielt, als es lang schon eine Frau war. Mit allem Drum und Dran. Das Thema hatte ich weggeblendet und mich um nichts gekümmert. Keine Aufklärung, keine Vorsorge, kein Verhütungsmittel.
    Mein Kind ist groß und hat ein Liebesleben. Ich selbst hatte keins, sondern mich zwangsverpflichtet und weitergemacht Tag für Tag. Nacht für Nacht. Ein paar Aufträge, kleine Sachen, enge Vorgaben, wenig Freiheit für Ideen, noch weniger Honorar. Graf i ken, Tabellen, hier ein Tramplakat, da ein Leporello. Flyer und Merkblätter für Banken, Behörden, Versicherungen, Finanzdienstleister – was es eben so gibt. Dann und wann etwas für die Zeitung, von Max vermittelt. Für die Drogenberatungsstelle, bei der Regula arbeitete. Almosen, Krümel aus den prall gefüllten Werbebudgets, in die hohle Hand gewischt, damit der arme Zeichner nicht verhungern muss. So kam genug zusammen, dass ich nicht mehr aufs Sozialamt musste. Immerhin.
    Ich muss sie anrufen, muss ihre Stimme hören. Jetzt.
    Im letzten Augenblick biege ich auf eine Raststätte ab, fahre viel zu schnell, bremse quietschend ab, Lio fliegt in den Gurt und wird unsanft geweckt. Sofort beginnt sie zu maulen, und ich fahre den Wagen in eine Parkbucht, schmeiße die Tür hinter mir zu und stapfe rauchend auf und ab, das Telefon am Ohr.
    Das Mädchen sitzt währenddessen still auf seinem Sitz und wartet mit der ihm eigenen unerschütterlichen Geduld, was nun passiert. Ich helfe ihr auszusteigen und begleite sie ins Untergeschoss des Restaurants, wo ein Rudel Frauen vor dem Drehkreuz zur Toilette steht und wartet. Und schaut. Verstohlen betrachten sie mich. Verwundert zuerst. Dann mitleidig. Wir kennen das. Lio trappelt von einem Fuß auf den anderen.
    »Die Leute stressen mich.«
    »Mich auch. Komm.« Ich nehme sie an der Hand, gehe an der Schlange vorbei nach vorne, werfe ein Geldstück ins Drehkreuz und schiebe Lio hinein. Sie bleibt stehen und sieht mich an. »Komm mit.«
    Und als ich den Kopf schüttle. »Konny, komm.«
    »Lio, das ist hier nur für Frauen. Versuch es mal allein. Du schaffst es ohne mich.« Ich sehe ihrer gedrungenen Gestalt nach, den runden Schultern, wie sie um die Ecke geht, schiebe die Hände in die Hosentaschen, warte. Die Frauen sehen mich an. Ich pfeife leise, fast geräuschlos. Lio kommt zurück.
    »Alles klar?« Sie lässt den Kopf hängen, und da sehe ich es.
    »Warte hier. Nicht weggehen, ja?«
    Ich renne zum Auto, hole frische Unterwäsche, kaufe Feuchttücher, renne

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