Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
dass der Spiegel springt und klirrend bricht. Grelles Gelächter. Sie lacht und lacht, und tausend Splitter rieseln auf die Erde.
Lio steckt die Gabel in die Bratwurst, drückt sie in die Sauce, sägt mit dem Messer in ihrer Mitte, durchtrennt die Pelle, durchtrennt die körnige Füllung und schneidet in der Sauce weiter. Fest hält die dickliche Faust die Gabel umschlossen. Jetzt rutscht das eine Wurststück weg, die Faust haut auf den Teller, die Gabel kippt in den Kartoffelbrei, das Mädchen leckt die Außenkante seiner Faust ab, legt dabei den Kopf schief und tunkt den Pferdeschwanz ins Essen.
Ich stelle mein Weinglas ab und sehe aus dem Fenster des menschenleeren Gasthofs in diesem ausgestorbenen Dorf an der früheren Grenzlinie der beiden deutschen Staaten. Ein Grenzwall durchzieht die Landschaft, aufgefaltet wie ein Stoffwulst, eilig zusammengestichelt mit Panzersperren und Wachtürmen, Schießanlagen hineingeheftet in den Lumpenhaufen des Kalten Krieges; jetzt ein kilometerlanges Freilichtmuseum, da, wo Bayern endet und Thüringen beginnt.
Eine einzelne Frau geht mit gesenktem Kopf auf und ab, tippt mit dem Daumen auf ihrem Telefon herum … Sie trägt einen gelben Mantel. Ich trinke einen Schluck und versuche, nicht nach Lio zu sehen, die mit der Serviette auf dem Tischtuch herumwischt. Mein Handy klingelt, es sind aber nicht die Zed-Editions, denen ich die Überarbeitung des Gesichtslosen zur Veröffentlichung geschickt habe, sondern die Bildredaktion der Postille. Sie warten auf eine Karikatur zum Rettungsschirm für pleitebedrohte Eurostaaten. Kommt jetzt Ruhe in den Karton? Wird es eine Ansteckung geben? Da mir nichts eingefallen ist, ich folglich nichts gezeichnet und auch nichts zu berichten habe, drücke ich den Anruf weg und schalte das Telefon aus. Draußen wischt die Frau mit den Fingerspitzen über ihr Smartphone und steckt es dann in die Manteltasche. Lio folgt meinem Blick und sagt: »Josefine.« Fraglos akzeptiert sie, dass ein Mensch, den sie nur von lebensgroßen Skizzen auf Packpapier kennt, so unvermittelt und leibhaftig erscheinen kann. Sie sieht einfach aus dem Fenster, sagt ihren Namen und winkt heftig. Ich sage, sie solle weiteressen. Und Lio kämpft mit der Bratwurst, deren andere Hälfte jetzt über den Tellerrand hüpft, bis eine kleine Plastikvase mit zwei Plastiknelken sie aufhält. Lio sieht dem Wurststück nach, schüttelt nachsichtig den Kopf und legt es zurück auf den Teller. Ob stumpfe Messer, zähe Wursthaut, spritzende Saucen, ob nasses Bett, kalte Füße, verklebte Haare, keiner nimmt die Tatsachen des Lebens so bereitwillig hin wie meine Tochter. Duldsam wie ein Schaf akzeptiert sie den Reibungswiderstand alltäglichen Ungeschicks, der jede Tätigkeit zum feinmotorischen Exerzitium macht. Ob in Form winziger Knöpfe, die aus den immer zu großen Knopflöchern rutschen, ob als schwer gängige Reißverschlüssefeiserschlüsse, als verfusselte Klettverschlüsse, als auslaufende Filz- und abbrechende Holzstifte, zersplitternde CD -Scheiben oder sich in ihre Bestandteile auflösende Elektrogeräte, Lio akzeptiert alles, sogar, dass das Ungemach in Gestalt von Nadeln, Schläuchen, kalten Rohren in sie eindringt und unter Schmerzen in ihr herumfuhrwerkt. Duldsam wie ein Schaf wird sie auch das Verschwinden ihres Vaters hinnehmen wie einen Regengraupeltag im Frühsommer. Ich versuche, den Kopf zu heben, den Druck des Rückenpanzers zu lockern, den ich trage, seit wir auf der Reise sind, seit wir in einer langen, grau asphaltierten Diagonale von Grenze zu Grenze, von Zürich nach Stettin und weiter an die Ostseeküste, Autobahn um Autobahn um Autobahn, den Raum durchfahren, die Zeit durchqueren. Das Mädchen und ich. Schnell leere ich mein Gas, ziehe den Kopf zwischen die Schultern, warte ab. Lio schaufelt Kartoffelbrei. Sie löffelt, schluckt. Ein langer Weg.
Die Reste der Mahlzeit schiebt sie mit dem Messer auf die Gabel, kratzt den Teller aus, bis er leer ist. Nichts hat sie gekonnt, nicht einmal saugen oder strampeln, und ihr Schreien ist das leise Maunzen einer Katze gewesen. Steif und still hat sie dagelegen und den blaugrauen Blick in den Himmel geheftet, aus dem die Flocken fielen. Dichter Schneegriesel, feinstes Pulver und die allerkleinsten, dem Menschenauge unsichtbaren Spiegelsplitter. Sie war der Schneekönigin vom Schlitten gefallen und mitten hinein in den weißen Korbwagen an meinem Küchenfenster.
Mit vielen Zungenstrichen schleckt sie den Löffel sauber,
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