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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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zurück, Lio steht immer noch da, die Frauen, die nicht weniger werden, denn die Zurückgekommenen bleiben stehen, um mitzukriegen was passiert, sie glotzen. Ich springe über die Absperrung, nehme Lio an der Hand und schiebe sie in die Behindertentoilette. Sie hält mich fest, leise rede ich auf sie ein, spreche Wort für Wort und Satz für Satz einen Kokon um uns herum, in dem sie sich sicher fühlt. Und ich mich auch. Ich verriegle die Tür hinter uns und erkläre ihr Handgriff für Handgriff. Da erinnert sie sich wieder daran. Ich spreche mit gedämpfter Stimme und im breitesten Schweizerdeutsch, dessen ich fähig bin, damit die Frauen uns nicht verstehen. Die dreckige Unterhose spülen wir das Klo hinunter, dann füllen wir die nasse Hand mit flüssiger Seife, bis sie überquillt, und schäumen jeder Faust eine weiße Perücke auf den Kopf. Vier alte Weiber, die sich ankeifen, bis Lio wieder lacht. Schnell rennen wir die Treppen hinauf, ins Auto und rasen, nachdem ich getankt habe, zurück auf die Autobahn. Ich werde Josefine sehen. Es ist früher Nachmittag und leiser Schneegriesel fällt.
    In den ereignislosen Jahren, seit ich den Kontakt zu Josefine abgebrochen hatte, stapelten sich die Skizzen aus unserem Alltag wie die ungelebten Gefühle, die unerfüllten Ambitionen. Eher überlebte ich, als dass ich lebte. Alice hatte sich in einen aus dem Welschland verliebt und zog weg. Eine orthodoxe jüdische Familie zog in die Wohnung im Erdgeschoss ein, die Kinder waren still und schüchtern, am Freitag hörte ich sie nach Sonnenuntergang voller Inbrunst die Sabbatlieder singen, und jedes Jahr im Oktober bauten sie im Hinterhof eine Art Gartenhaus für das Laubhüttenfest auf, in das sie Nachbarn und Freunde einluden. Manchmal noch wählte ich Josefines Nummer in München, legte jedoch den Hörer wieder auf, bevor die Verbindung hergestellt war. Als ich es Jahre später einmal durchklingeln ließ, kam die mechanische Ansage »diese Nummer ist ungültig, wollen Sie bitte im Telefonbuch nachsehen«.
    Der Comic hatte seine zwingende Notwendigkeit gezeichnet zu werden verloren, und nichts hatte ihn ersetzt. Das Zeichnen war ein beliebiger Teil meines Lebens geworden, Quantité négligeable, etwas, das ich tun oder lassen konnte, wie den Gang zum Friseur, den ich mir schon lange sparte; die überschulterlangen Haare wickelte ich auf dem Kopf zu einem Knoten, in den ich Spaghetti oder Essstäbchen steckte. Ansicht des Muttermanns. So lebten wir dahin. Max lebte jetzt in Bern, wo er die Stelle des Inlandredakteurs einer großen Tageszeitung bekommen hatte, er hatte sich von Regula getrennt, die mich von Zeit zu Zeit anrief. Sorge schwang in ihrer Stimme und ein knochenschwächendes Mitleid, wenn sie sich nach Lio erkundigte. Meine Reaktion war immer dieselbe. Ich betonte Lios Fortschritte, wie leicht ich es mit ihr hatte – was stimmte, schenkte sie mir doch jeden Tag ihr freundliches und so vertrauensvolles Wesen. Dann wartete ich und biss die Zähne zusammen, bis Regula mit Sehnsucht in der Stimme sagte, wir könnten ja mal etwas miteinander … Schnell schützte ich Arbeit und Verpflichtungen vor, sodass auch sie schließlich nicht mehr anrief, was mir recht war. Mein Leben lief wie eine kleine unzulänglich geölte Maschine. Ein stotternder Motor, der beständig an Leistungskraft verlor, ohne dass ich mir dessen bewusst wurde. Das Nötigste erledigen, den elenden Haushalt besorgen, die Anträge auf Unterstützung für die Krankenkasse, Invalidenversicherung, reduzierte Hortkosten, die Steuern, die Mail-Korrespondenz mit Therapeutinnen, Lehrerinnen, Ärzten. Termine vereinbaren, um die Augen, die Füße, den Rücken, Wachstum und Entwicklung ganz allgemein überprüfen zu lassen, psychologischen Rat wegen der Verhaltensauffälligkeiten und der Bettnässerei einzuholen, Spezialschuhe, Spezialkleidung besorgen. Lio wollte Hüfthosen und bauchfreie T-Shirts, in die ihre Robbenfigur nicht hineinpasste, stattdessen kauften wir Trikothosen, Schlabbershirts, Sackkleider, einfach an- und auszuziehen. Lange, weite Oberteile, unter denen ihre Bauchrundung verschwand. So kam es, dass ich nicht bemerkte, wie sie anschwoll. So kam es, dass ich, als ich es bemerkte, nicht mehr weiterkonnte. Auch nicht mehr weiterwusste. So kam es, dass ich an einem leuchtend blauen Novembermorgen beschloss, mein Kind wegzubringen.

29
    Die Königin fährt Schlitten. Über den Winterhimmel hetzt sie ihre Hunde, peitscht sie durch die Kälte, lacht,

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