Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
einer langen Hitzewelle doch noch kam, es sei zu heiß, und gaben die Erleichterung voreinander nicht zu, Max nicht, denn er hatte inzwischen einen weiteren Job als freier Journalist in Bern, von wo er für eine überregionale Tageszeitung aus dem Bundeshaus berichtete, und ich nicht, denn ich wusste dem Freund nichts zu sagen über meine festgefahrene Situation. Auch spürte ich, wie wir uns voneinander entfernten in verschiedene Leben, deren Schnittmenge vor allem aus Erinnerungen bestand. Doch die Gegenwart forderte mich, und so war ich am liebsten mit Lio und meinen Zeichnungen allein, wollte von Max nichts erwarten, wollte mich auch nicht zumuten, das vor allem nicht. Eine große Stille kehrte zwischen uns ein, und manchmal kam es mir vor, als kündigte sich in ihr das Ende unserer Freundschaft an.
Von Zeit zu Zeit riss Lio sich im Schlaf trotz der Baumwollhandschuhe die Sonde raus, sie kringelte sich neben ihr wie ein Glaswurm, das dicke Ende klebte noch mit diesem albernen Herzpflaster auf ihrer Wange fest. Ich brachte sie ins Krankenhaus, wo sie ihr eine neue steckten und mich aufforderten, das selbst zu lernen, sodass ich nicht immer kommen müsste. »Sehen Sie, ganz einfach«, sagte die runde Kinderkrankenschwester, doch ich verweigerte mich. Ich sei schließlich der Vater des Kindes und nicht sein Pfleger. Das würde ich auch nicht werden wollen. Ja, das könne sie verstehen, sagte die Schwester und sah mich dabei zweifelnd an. Beim nächsten Mal reichte ich das Kind durch die Tür ins Zimmer und drückte mich auf dem Flur herum, bis sie fertig waren. Dann eilte ich mit Lio auf dem Arm davon, bevor sie nach der Humangenetik und dem Verlauf der Gentests fragen konnten.
Kleine Kinder soll man spazieren führen, und so schob ich Lio an den wenigen warmen Abenden dieses Sommers durch die Straßen der Großstadt, setzte mich irgendwo in eine Bar und landete zum Schluss immer in der Spelunke, in der ich Paule zum ersten Mal begegnet war. Stange, Rugeli, Kübel, Becher. Ich trank aus der Flasche und ließ den Wagen mit dem schlafenden Kind vor der Tür stehen, doch jedes Mal, wenn ich schwankend wieder auf die Straße trat, war er noch da und Lio schlief selig inmitten des Gehupes und Geschreis, der Technomusik aus den Clubs und dem Gejammer der bettelnden Junkies.
Der Sommer verging so schnell, wie er gekommen war, ich sammelte immer noch Material für die Zellkernsache, der ich den Titel SEQUEL gab, überlegte an einer Erweiterung der Geschichte des gesichtslosen Mannes rum, suchte Material zusammen, las Zeitungsberichte, Reportagen, las die einschlägigen medizinischen und naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften, sammelte alles, was zum Stand der Sequenzierung des menschlichen Genoms zu finden war, zum Projekt HUGO und dem Wettlauf mit Craig Venters Celera Genomics, es fehlte mir jedoch die zündende zeichnerische Idee. So brachte ich nichts zustande, hing wochenlang fest, klammerte mich an die Unterlagen über Eugenik und genetische Beratungsstellen, über Pränataldiagnostik und Erbkrankheiten, Molekulargenetik und Zwillingsforschung, über die Folgen der Atomtests in der kasachischen Steppe, den Anstieg der Behindertenraten seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Das brachte alles nichts. Es kam mir sinnlos vor, zerfiel unter meinen Händen, und nichts, aber gar nichts formte sich zu dem, was meiner Vorstellung von einer Geschichte auch nur annähernd entsprach. Mehrmals rief ich die Zed-Editions an, die schon bereit wären, den Gesichtslosen zu drucken, jedoch kein Honorar zahlen konnten, was ich ablehnte, zunächst; doch mit der Zeit und je mehr ich in eine Sackgasse geriet, umso akzeptabler schien mir das Angebot, und ich war nah dran einzuwilligen, wollte noch eine Nacht drüber schlafen, als ich in der Post die zweite Aufforderung der Uniklinik fand, Lio zur Blutuntersuchung und zum Gentest vorzustellen. Statt dem nachzukommen, beschloss ich, nach Hause zu fahren, das heißt nach Deutschland. Zu meiner Großmutter.
Da klingelte es an der Tür. Ich hatte mir das Duschen mittlerweile fast ganz abgewöhnt und öffnete barfuß in einem fleckigen Unterhemd und in Trainingshosen. Draußen stand eine kleine, sehr dünne Person mit fusseliger Frisur und verschreckten Augen, die sich als Mütterberaterin und zuständig für mein Stadtviertel vorstellte. Wir sahen einander verlegen an, dann bat ich sie herein und bot ihr ein Glas Wasser an. Lio lag sabbernd auf einer Decke am Boden, nur mit Hemd und
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