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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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Windel bekleidet. Ohne zu fragen, nahm die Frau das Kind hoch, betrachtete es genau, sah ihm in Ohren und Mund, entdeckte den gotischen Gaumen, sagte jedoch nichts. Es folgte wieder der Test aller Reflexe, bevor sie eine Art Doktorkoffer öffnete und ihm einen Metallgegenstand von der Größe eines Korkenziehers entnahm. Sie breitete ein grobmaschiges Häkeltuch aus, legte das Kind darauf und hängte die vier Ecken des Tuchs an einen Haken, der aus dem Messinginstrument herausragte. Sie hob es an seinem anderen Ende in die Höhe, Lio wurde zusammengerollt und angehoben, ihr Gewicht zog einen Zylinder mit Feder nach unten, der anzeigte, wie viel sie wog. Zu wenig. Stellte die Mütterberaterin trocken fest und holte aus zu einem Vortrag über die Allergiegefahren der Pulvermilch und die Vorteile des Stillens, das die La Leche Liga vehement propagierte. Sie hielt mich an, das Kind zu stillen. Ich sah an mir hinab auf mein fleckiges Unterhemd und fragte sie, wie genau ich das ihrer Ansicht nach bewerkstelligen sollte, woraufhin sie mich mit verschreckten Augen ansah und etwas von der Mutter murmelte. Dass das Kind doch die Mutter brauche. Ja, die Mutter, sagte ich laut, die könnte nicht nur das Kind gut hier gebrauchen, nur sei die leider nicht da und komme auch, wie es aussehe, nicht zurück. Als die Frau begriffen hatte, verabschiedete sie sich rasch wieder, nicht ohne einen Stoß Broschüren zurückzulassen über Milchpumpen, frühkindliche Entwicklung, Notfall adressen (Elternnotruf, Sorgentelefon, Dargebotene Hand) und Mutter-Kind-Beratungsstellen. Ich warf alles unter die Spüle ins Altpapier und ging wie ein Automat an den Zeichentisch.
    Lio war ein angenehmer Mensch. Während ich arbeitete, sprach ich mit ihr, erzählte von meinen Comics, was ich gerade zeichnete, von Paule und dass wir das auch allein schafften, vom Leben, wie ich es verstand, und Lio blubberte ein wenig dazu, gurgelte und brabbelte ihren eigenen Text. Sie fuchtelte mit den Armen, und ich versprach ihr, diese Person nicht mehr in die Wohnung zu lassen, gar niemanden mehr in die Wohnung zu lassen. Wir würden es allein schaffen, wir beide. Wir brauchten sie alle nicht: die Falbe nicht, den Drusenarzt nicht, die verschreckte Mütterberaterin nicht, den Klugscheißer von Apotheker, den vor allem nicht. Ja, auch Paule nicht, sie am allerwenigsten. Lio gluckste, und als ich mich über sie beugte, um sie zuzudecken, lächelte sie.
    Vor einem Jahr etwa hatte es damit begonnen, dass meine Großmutter an den Samstagen für eine imaginäre Großfamilie einkaufte. Das Festessen stellte sie, weil keiner kam, wer hätte auch kommen sollen, in den Töpfen auf den Balkon, wo ich es, von einer dicken Schimmelschicht bedeckt, fand. Die Nachbarn hatten mich gerufen, weil das vergammelte Essen gärte und stank. Doch als ich bei ihr ankam, war sie nicht zu Hause. Ich räumte die Wohnung auf, suchte sie, fand sie nicht und alarmierte schließlich die Polizei. Die fand sie in einem Straßengraben, in den sie auf einer ihrer nächtlichen Wanderungen gestürzt war, ich sei es gewesen, der sie gerufen habe, und sie habe mich doch nicht allein in der Dunkelheit stehen lassen können, ich sei doch noch so klein und hätte keine Eltern mehr, nur noch sie … Man fand sie mit Schürfwunden an den Beinen und zerrissenen Strumpfhosen, der Rock war verdreht und der Mantel nass und voller Grasflecken. Das war alles nicht so schlimm. Schlimm war, dass sie nicht mehr allein bleiben konnte und in ein Altersheim musste.
    Lange Flure, vollgestellt mit Rollstühlen, in denen die gebrechlichen Hüllen und abgenutzten Knochen verbrauchter Menschenleben kauerten, blanke Laufstrecken der Einsamkeit, auf denen wirre Geister umhergingen, sich, als sie mich jetzt mit dem Kind auf dem Arm sahen, an mich drängten, um Lio anzuschauen, sie an der Hand zu fassen oder in die Wange zu kneifen. Magere Arme streckten sich mir entgegen, wollten das Kind nehmen, es an den vertrockneten Körper drücken, sich zu erinnern an lang vergangene Gesten der Fürsorge, an verschüttete Momente der Lebensfreude, des Aufbruchs in Mutterschaft, an das, was Erfüllung genannt wurde. Es kostete mich Mühe, nicht grob zu werden, als ich Lio durch die Gruppe der Alten bugsierte und in den Fahrstuhl trug. Stock E, Zimmer 221.
    Großmutter lag auf dem Rücken und schlief mit geöffnetem Mund. Seit meinem letzten Besuch war sie weiter verfallen, die dünne Wangenhaut eingesunken über zahnlosen Kiefern. In einem Glas

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