Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
»bedeutet das nicht, dass mit ihm alles in Ordnung ist. Es kann etwas nicht normal sein, das wir hier nicht feststellen können«, er hob die Hand, als wollte er abwinken, »das wir mit unseren Untersuchungsmethoden nicht diagnostizieren können.« Seine Stimme bekam einen weinerlichen Unterton, keine Ahnung, ob wegen der unzureichenden Ausstattung der Klinik oder weil er statt an Kongressen teilzunehmen, derlei Gespräche führen musste.
Ich setzte mich. Jetzt hatte ich es zum ersten Mal gehört. Nicht normal. Fast unmerklich hob sich die Wollmaus ein wenig vom Boden ab und flog zögerlich unter der Fensterbank entlang.
»Möglich«, fuhr er fort, »dass etwas im Blut des Chindli festgestellt werden kann. Dass ein besonderer Test – der hier nicht gemacht werden kann – uns zeigt, was dem Chindli fehlt.« Er schwieg und beobachtete mich. »Sie wissen vielleicht, dass es Defekte gibt, die in den Genen liegen. Das kann man nur durch besondere Blutuntersuchungen nachweisen. Damit wir ganz sicher sein können, dass bei Ihrem Töchterlein kein solcher Defekt vorliegt, müssen wir Sie an einen Spezialisten überweisen.« Er lächelte die Diagramme an. Die Wollmaus sprang unruhig hin und her.
»Wenn ich Sie richtig verstehe, sollen wir einen Humangenetiker aufsuchen.« Der Assistenzarzt nickte, erleichtert, dass ich verstanden hatte, und zog ein Papier aus dem Dossier. Er schob es über den Tisch.
»Hier das Überweisungsformular. Wir werden einen Termin für Sie vereinbaren. Sind Sie unter folgender Telefonnummer zu erreichen?« Geschäftsmäßig fragte er unsere Koordinaten ab, Adresse, Krankenkasse, mögliche Termine, füllte ein Formular aus, das ich unterschreiben musste. Er schien glücklich, sich auf den bürokratischen Akt zurückziehen zu können und nicht mehr mit persönlicher Nähe, womöglich ungeordneten Reaktionen meinerseits, rechnen zu müssen.
Ich verstand dennoch. Sie gingen von einem Genschaden aus. Noch hatte keiner, weder er noch ich, das Wort Behinderung in den Mund genommen. Die Wollmaus tanzte.
»Herr … äh, Michaelis«, er reichte mir seine bleiche Hand, »Sie werden von der Universitätsklinik in den nächsten Wochen aufgeboten.«
Ich nahm das schlaffe Etwas und drückte mit aller Kraft.
»Alles Gute.« Er eilte hinaus, wobei er verstohlen die Finger bewegte.
Bevor ich ging, öffnete ich das Fenster und sah vom siebzehnten Stock aus hinunter auf die Stadt. Als der Sog zu stark wurde, bückte ich mich und hob das Staubknäuel hinaus, wo es, im Sommerwind tanzend, aufflog, dann niedersank.
SEQUEL
Vor dem weißen Gittermuster auf dunkelgrüner Wandtafel, im hellen Licht des Untersuchungszimmers, an der behördlich geeichten Messlatte und unter dem scharfen Blick des humanmedizinisch geschulten Auges zeigt sich der Schrecken der Abweichung. Unser Werk wird offenbar. Hier, in dem, was sie Sichtdiagnose nennen, nicht jedoch unter dem millimeterkleinen Linsenauge des Elektronenmikroskops, das die zwei gläsernen Chromosomenstäbchen begutachtet, jene von uns, die sie mit der Nummer 23 bezeichnet haben. Nichts zu sehen. Im Verborgenen haben wir gute Arbeit geleistet. Auch im fluoreszierenden Hybridisierungsbad nicht, der FISH -Test – noch einer, auch er – ohne Befund. Nichts zu sehen. Nichts festzustellen. Nichts zu diagnostizieren. Nicht auf dem kurzen Arm, nicht auf dem langen Arm. Die Abweichung hat keinen Namen. Wir hatten uns nicht einigen können. Viel zu viele von uns hatten was Neues ausprobieren wollen, sich neu kombinieren wollen, erst 13.3., dann 11.1p und in der Folge auch 11.2p, das hat die beiden 11q auf dem langen Arm aufgebracht, dann kamen schnell nacheinander 21, 22, 23 und 24 dazu und schließlich der ganze Block 12. Auf beiden Armen. Was für ein Durcheinander. Es musste schnell gehen und verlief prompt ziemlich unkoordiniert. Hier was vertauscht, dort was rausgeschnitten, eingefügt. C und G und A und T, anders kombiniert, die Doppelhelix stärker gedreht, und alles änderte sich. Jede Zelle, jede Faser, jeder Nerv. Jedes Haar, jede Hautschuppe an dieser Stelle anders aufbauen, ein Riesenspaß, bis die Gene für die Rothaarigen auf Chromosom 16 sich einmischten, doch die konnten nicht mehr berücksichtigt werden. Zu viel war vertauscht und verschoben worden, es war nicht mehr rückgängig zu machen, selbst wenn wir es gewollt hätten, denn wir hatten die ursprüngliche Kombination vergessen, uns heillos in den Rekombinationsmechanismen verstrickt. Zurück auf
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