Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Anfang war nicht mehr möglich, einige wollten es auch nicht, weigerten sich, wollten, wie gesagt, etwas Neues ausprobieren.
Das glucksende Tosen in der Ursuppe der Chromosomenaberrationen aus dem Fundus der Evolution, wieder war uns etwas gänzlich Neues gelungen, und das neue Menschenwesen sollte sich vermehren, duplizieren, fortpflanzen. Fünfzigprozentig die Wahrscheinlichkeit, dass es unsere Neukombinationen in einem gleichfalls veränderten Menschlein weitervererben würde, wir mussten es nur abwarten. Fünfzehn, zwanzig Jahre konnten wir in aller Ruhe zusehen, wie sie unser Werk als Abnormität qualifizieren würden, es vermessen würden vor der Gittertafel, wo all die Buckligen und Zyklopen, die Sechsfingrigen und Lippengaumenspalten, die verformten Genitalien, vervielfachten X-Chromosomen, die Hermaphroditen und Hydrozephali, kurz all die Menschenkinder in ihrer verwachsenen Nacktheit taxiert und klassifiziert werden, wo die kleinste Abweichung beziffert wird, katalogisiert und in Datensätzen erfasst, und als Aberration, als Verirrung, als Abnormität, als Defekt bezeichnet, als Degenerierung, ja als Leid, Krankheit, Elend, nicht lebenswertes Leben, was wir geschaffen haben, weil wir was ausprobieren wollten.
Das Gittermuster, ein auf der Wandtafel vergrößertes Rechenpapier, vor dem die Menschenwesen aufgestellt werden, normiert, distanziert und objektiviert, was doch ein je eigenes und einmaliges Leben ist. Ein Kind, zwei Eltern – Familie als nicht subjektiver zu denkende Tatsache, die das ganze Leben durchdringt und der mit Rasterungen nicht beizukommen ist. Einzelschicksal. Im Netz der institutionalisierten Behindertenbetreuung werden sie sich verfangen, und sie werden nach und nach die Kategorisierungen anerkennen, denen das Kind fortan unterworfen ist, sie werden der Tatsache nicht entkommen, die in Form von Einschachtelungen – kleine Behältnisse mit der Aufschrift DEFIZIT – die Ausgrenzung vollzieht. In ihrer kleinen Schachtel verwachsen sie zur Schicksalsgemeinschaft. Die Krüppelkinder aus dem Katalog der Chromosomenverirrungen, aus dem nie einer was bestellt, begegnen Atropos, der kleinsten und schrecklichsten Meisterin, derjenigen, die weder umgangen noch vermieden werden kann, und von ihr bekommen sie die Schere. Denn während die Schwestern der kleinen Schrecklichen spinnen, weben, nähen, ist sie es, die den Faden durchtrennt mit ihrer Schere. Sie leiht sie den Krüppelkindern, damit sie das Gittermuster in lange Streifen schneiden können, die sie aneinanderheften und zur Strickleiter binden. Leicht und ohne Anstrengung klettern die gewichtslosen Irrwesen auf den fadendünnen Sprossen der Himmelsleiter hinauf und hinunter, begegnen einander, sie kennen sich gut, sind alle von einem Schlag, vom selben Schlag, in ein und denselben Schlag gesperrt gewesen, ehe sie aus den Rasterschachteln entkommen auf die haardünne Strickleiter, die einen normalgewichtigen Mittelmenschen nicht tragen würde, die Krüppelchen jedoch nach oben bringt, eins ums andere, und wieder hinab. Auf und ab, ein ewiges Erdenleben lang. Bis Atropos ein Einsehen hat, die Schere nimmt und sie durchtrennt, die haarfeinen Holmen.
Noch klettert das Liowesen nicht hinauf, noch klettert sie nicht, ja steht noch nicht einmal vor der Gitterwand. Doch wird sie ihr nicht entkommen, denn bereits jetzt reichen Maßband, Schweißtropfen und Röntgenstrahlen, EEG und Ultraschallgerät nicht aus, nicht einmal das aus Blutstropfen gewonnene und im FISH -Test analysierte Genmaterial, um die Abweichung festzustellen.
12
Der Brief kam, der Termin stand fest, ich ging nicht hin. Ich ging nicht zur Humangenetik.
Stattdessen schloss ich mich mit dem Kind zu Hause ein, zeichnete und arbeitete, schloss die Grassodensache endlich ab, schrieb die Rechnung, erledigte einige kleinere Aufträge, Illustrationen für den Geschäftsbericht einer Privatbank, Entwurf eines Maskottchens für das Gemeinschaftszentrum unseres Stadtviertels; ferner ein paar Flyer und Layouts für Einseiter, Flugblätter, meist Arbeiten für Auftraggeber, die ich persönlich kannte, die wenig Budget hatten und mit einem Entgegenkommen meinerseits rechneten. So hatte ich viel zu tun, nahm aber nicht viel ein.
Selten schien die Sonne, meist war es trüb und kühl draußen, der Himmel so grau wie die Stimmung auf den Straßen. Max und ich trafen uns nicht mehr im Friedhof, das Wetter sei zu schlecht, sagten wir zueinander und später, als der Sommer Mitte August mit
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