Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
hab dir jemanden mitgebracht«, fuhr ich fort und fühlte ihre Finger in meiner Hand flattern, als wären sie eingesperrt. Langsam legte ich ihre Hand zurück auf die Bettdecke, wo sie herumfuhr, als prüfte sie einen kostbaren Stoff, doch suchend, hektisch fast. Ich schälte Lio aus der Jacke und setzte sie auf meinen Schenkel, damit sie ihre Urgroßmutter sehen konnte. Lio machte keinen Laut, versuchte jedoch den Kopf in meine Richtung zu drehen, wodurch er unkontrolliert zu wackeln begann. »Die Muhme«, sagte ich albern. Das Kind wackelte weiter mit dem Kopf, die Alte zippelte an den letzten Fellresten auf dem Rücken des Bären herum. Lio tropfte auf mein Knie, die Alte machte Laute des Unmuts, ich lachte haltlos in mich hinein.
Langsam zog ich das Tier weg, legte stattdessen Lio auf den Bauch meiner Großmutter und beobachtete, was geschah. Augenblicklich begannen die zweighaften Finger mit kundigen Bewegungen den kleinen Körper zu betasten, huschten über das Kind hinweg, umfassten das Köpfchen, hielten es und begannen nach einem Seufzer des Erkennens das Kind mit immer derselben, gleichmäßig ruhigen Bewegung zu streicheln. Lio lag ausgestreckt auf dem schmalen Körper ihrer Urgroßmutter, den Kopf auf die Seite gelegt, und bewegte sich nicht. Unter den Händen der Alten schien sie weicher zu werden, als ob eine uralte Spannung von ihr abfallen würde, als ob eine Ankunft sich ereignete, und die beiden Enden einer Kreislinie sich berührten. Ich trank einen Schluck Wasser aus der grünen Flasche auf ihrem Nachttisch, stand auf und öffnete den Rollladen. Vor dem Fenster flirrte das hellgrüne Licht eines Kastanienbaums, unten brauste ein Motorrad die Hauptstraße entlang und unterbrach den Stundenschlag vom nahen Kirchturm. Ich erinnere mich nicht, wie lange ich da stand, doch als ich mich umdrehte, war Lio fest eingeschlafen, während die Großmutter unentwegt die ganze ihr verbliebene Zärtlichkeit in den Säuglingskörper hineinstreichelte, als wollte sie sie dalassen auf der Welt, und was für eine Verschwendung wäre das gewesen, hätte sie sie mitgenommen ins Grab. Es war still und warm im Zimmer, ich döste auf meinem Stuhl, während die beiden schliefen, Bauch an Bauch.
Mit einem Ruck wurde die Tür aufgerissen, mit einem Ruck fuhr ich hoch, das Deckenlicht flackerte auf, und eine muntere Stimme rief: »Abendessen!«
Auf dem Wecker meiner Großmutter war es erst halb fünf. Eine kleine drahtige Person, die sich als Schwester Waltraud vorstellte, machte sich am Bett zu schaffen und tat einen erstaunten Ausruf, als sie Lio entdeckte. Sie nahm das Kind aus den Händen der Alten, hob es vor ihr Gesicht und begann auf es einzureden. Lio streckte die Arme durch und wimmerte. Die Pflegerin hopste aus den Knien auf und ab, beklopfte dem Kind den Rücken und sprach unentwegt. »Ja, du Süßes, Kleines, dudu, jaja, ist ja gut, die Mama ist da, musst nicht weinen, sei still jetzt, du Kleines, was bist du für ein hübsches Kind, wer wird denn da weinen, gehört sich das für ein süßes Kerlchen, wie du eines bist?« Und antwortete sich selbst: »Aber nein, nein, nein, das gehört sich nicht. So wein doch nicht, dududu. Sei ein braves Kerlchen, ein liebes kleines Baby, wer wird denn weinen, du Kleines, Unartiges, du? Schau, der Papa ist ganz traurig, wenn du weinst, das mag der Papa gar nicht, und die Oma? Schau, die Oma weint ja auch gleich, wenn du jetzt nicht aufhörst, du. Kleines Dummerchen, kleines dummes Kindlein. Bist du ein kleines Böses, wenn du so weinst, ja oder nein? Ja, du bist ein böses Kindlein, wer wird denn so ein Böses sein?« Und so fort.
Ich stand auf und nahm der Schwester das Kind weg.
Waltraud gab es mit mit säuerlicher Miene und griff nach einem Kabel am Kopfende des Bettes. Die alte Frau fuhr mit dem Oberkörper in eine halb sitzende Position.
»Nicht einfach, sag ich.« Waltraud platzierte das Tablett mit dem Essen auf dem Nachttisch. »Allein mit so einem Kind …« Ich tat, als hätte ich sie nicht gehört. »Und dann auch noch die Großmutter«, fuhr sie fort und rückte die alte Frau, die sich zur Seite geneigt hatte und aus dem Bett zu kippen drohte, zurecht, bevor sie weitersprach über meine Situation und das, was sie ein Lebenslos nannte.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Nun«, sie zögerte und bauschte das Kopfkissen im Rücken der Großmutter. »Hilflos sind sie ja beide. Das ist sicher nicht leicht für Sie und braucht starke Nerven.« Sie redete sich warm.
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