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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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auf dem Nachttisch lag ihr Gebiss. Das einst volle Haar war kurz geschnitten und lag in dünnen, schmutzig grauen Strähnen flach am Kopf. Von Zeit zu Zeit zuckten ihre Augenlider, öffneten sich einen Spalt weit und gaben einen Streifen des Augapfels frei. Kein Blick, kein Erkennen, sie sanken wieder zu, selbst als ich sie am Arm berührte, um sie wach zu machen. Großmutter trug eins ihrer Seidennachthemden, und ein schwacher Hauch ihres Parfums lag in der Luft. In ihrem Arm der Teddy mit abgewetztem Plüschfell. Ich lag in ihrem Arm, der Teddy in meinem, während sie mir aus einem zerfledderten Märchenbuch vorlas. Die schluchzende Gänseliesel, das wirre Blondhaar offen bis zum Gürtel, über ihr der Schädel des Fallada, der du hangest, der Doktor Allwissend, die ihn umscharenden Dummköpfe belehrend, mein liebster Freund, der eiserne Heinrich auf dem Kutschbock, seinen vom Zauber befreiten Herrn in vollendeter Contenance fahrend. Er kutschierte ihn nach Hause, wie mein Vater eines Nachts in ruhiger Fahrt meine Mutter ins Himmelreich chauffiert hatte, den Wagen ungebremst auf einen Baum, es war eine Pappel, die beiden sofort tot. Es geschah am Sonntag, bevor ich in die Schule kam. Mit Zuckertüte, Federmäppchen, neuem Ranzen, in dem es nach Leder roch und noch nicht nach dem Zedernholz der Stifte, den Pausenbrotresten in Pergamentpapier und der abgestandenen Luft des Klassenzimmers. An der Hand der Großmutter stand ich da und wunderte mich nicht, als sie mich, nach dem sehr kurzen Auftakt in ein neues Leben, zwei Stunden später wieder abholte, mit mir zur Feier des Tages in eine Gaststätte ging, wo ich Pommes frites aß, paniertes Schnitzel und Cola dazu trank, während die Großmutter nur einen Kaffee nahm und danach einen Cognac. Das wunderte mich, denn das hatte sie noch nie gemacht. Danach nahm sie mich mit zu sich nach Hause, wo ich blieb. Wir konnten über alles reden. Den eisernen Heinrich, Raumschiff Enterprise, über Mädchen und übers Haschischrauchen. Nur über diesen Sonntag und den Grund, warum ich bei ihr war, sprachen wir nie, und wenn ich nach meinen Eltern fragte, sagte sie, die seien jetzt im Himmelreich, und ich fragte nicht, weshalb. Insgeheim wusste ich ja, dass es an mir lag. Dass es meine Schuld war, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was ich falsch gemacht hatte, woran es lag, was es war, das mit mir nicht stimmte. Die Befreiung von meinen Schuldgefühlen kam nicht. Auch nicht, als wir, um reinen Herzens zu sein, vor der Erstkommunion beichten mussten. Vor dem Holzgitter des Beichtstuhls bekannte ich alles, und als das ego te absolvo erklang, wie der Name eines gefährlich starken Medikaments, geschah gar nichts. Ich verließ das kühle, dunkle Kirchenschiff und wusste, dass der Pfarrer für meine Schuld nicht zuständig war. Dass keiner sie wegmachen konnte.
    Zu Hause lagen die Großmutter und ich auf dem dicken Perserteppich und ließen runde Plastikplättchen in den hölzernen Fuß eines rot bemalten Pilzes springen. Flohhupf nannte sie das Spiel und ließ mich so lange gewinnen, bis ich es bemerkte; dann las sie mir Märchen vor, eins und noch eins und noch eins, obwohl ich schon längst selbst hätte lesen können. Ich lag in ihrem Arm, ihr Duft umhüllte uns, sie hat das Parfum nie gewechselt. Einmal ließ sie das Buch sinken und sagte leise: »Sie waren jung und wild und wollten frei sein. Sie haben dich sehr geliebt, aber es war ihnen eben alles zu viel. Wo waren wir?« Sie nahm das schwere Buch wieder auf.
    »… so lag da ein wilder Mann, der braun am Leib war, wie rostiges Eisen, und dem die Haare über das Gesicht bis zu den Knien herabhingen …« Ich kannte sie alle auswendig.
    Wie heute fiel auch damals das gedämpfte Nachmittagslicht durch die Fensterläden ins Zimmer, wir hielten Mittagsruhe, und manchmal, wenn sie vom Vorlesen müde war, öffnete sich ihr Mund im Schlaf, gerade so wie jetzt.
    Das hellgraue Licht des Sommernachmittags erreichte das Bett der alten Frau nicht, sie lag im Zwielicht und knetete mit den rastlosen Händen den Teddy, als suchte sie etwas, als wollte sie etwas ertasten, etwas finden in der widerstandslosen Gestalt des Plüschtiers. Ihre Lider flatterten synchron mit den fahrigen Fingerbewegungen.
    »Oma«, sagte ich, und meine Stimme kiekste, was mir peinlich war, obwohl ich mit ihr und Lio allein war. Verlegen ergriff ich eine ihrer rastlosen Hände. Wie das Skelett eines Vogels lag sie in meiner und war doch so warm. Und weich.
    »Ich

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