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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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»Viel Kraft auch. Ich meine, bei der Großmutter ist das ja absehbar, aber das Kind … da wartet viel Arbeit auf Sie.«
    Ich hielt Lio fest im Arm und sagte, ich verstünde nicht.
    »Ich mein ja nur«, wiederholte sie, verstummte und begann, der Großmutter das Essen einzulöffeln.
    Lio war friedlich, und so sagte ich, ich würde das selbst machen. Waltraud überließ mir den Löffel und huschte aus dem Zimmer. Ich hielt den bräunlichen Brei aus Fleischsauce, vermusten Nudeln und Gemüse an die Lippen der Alten und wartete, bis sie sie öffnete. Damals hatte ich noch Geduld. Nach zwei Löffeln presste sie die Lippen aufeinander, ich gab ihr die Schnabeltasse mit Tee und überredete sie, weiterzuessen, bis der Teller halb leer war. Den Rest aß ich selbst, und es schmeckte mir trotz der seltsamen Konsistenz und Farbe, denn ich hatte an diesem Tag noch nichts gehabt.
    Als ich der Alten den Teddybären zwischen die Hände drückte, schob sie ihn weg, suchte tastend die Bettdecke ab und begann laut zu lallen. Erst als Lio wieder bei ihr lag, kam sie zur Ruhe. Sie hielt den Kopf des Kindes umfangen und streichelte das schwarze Haar. Lio lag mit offenen Augen ganz ruhig da. Ich sah die beiden lange an, und etwas fiel in mir zusammen. Geräuschlos und im Zeitlupentempo war es eher eine Auflösung, wie die Erosion einer Sandburg, die unter den leckenden Schaumzungen der steigenden Flut zerfiel. Ich saß bis die Straßenlampen aufflammten.

13
    Übermüdet von der langen Fahrt, kam ich am späten Abend nach Hause. Lio hatte großen Hunger, und ich spritzte ihr fast die ganze Flasche in den Glaswurm, bevor ihr die Lider zufielen. Ich wickelte sie, zog sie um und legte sie schlafen, als es an der Tür klingelte. Draußen stand Alice und fragte, ob ich dreckige Sachen hätte, sie würde morgen waschen. Ich war froh, denn tatsächlich hatte sich unter dem Waschbecken ein Berg Handtücher und Klamotten angesammelt, der schon säuerlich zu riechen begann. Ich stopfte das Zeug in einen blauen Ikeasack und bat Alice herein, dabei wunderte ich mich etwas, denn Alice hatte Lippenstift aufgelegt und trug ein Paar Hotpants, die so kurz waren, dass die Rundung ihrer Pobacken zu sehen war. Sie stand tief gebückt vor meinem CD -Regal und blätterte mit einem Finger die Plastikhüllen durch. »Wollen wir die hören?« Sie hielt eine CD von Astor Piazzolla hoch. Ich zögerte.
    »Ich habe einen langen Tag hinter mir und bin total geschafft, willst du sie dir ausleihen?«
    »Nein, das nicht, ich will sie mit dir zusammen hören.«
    Ich schwieg betreten.
    »Na ja, dann ein anderes Mal?« Sie stellte die CD zurück, richtete sich auf und schüttelte ihr Haar zurück. Es war sehr blond, fast weiß, und in schwingende Locken gelegt. Am Scheitel wuchs ein Streifen in ihrer natürlichen, aschblonden Haarfarbe nach. Sie schob sich mit dem Zeigefinger eine Locke hinters Ohr und lächelte.
    »Na gib schon her.«
    Ich reichte ihr den Sack und sagte, wie dankbar ich ihr sei. Tatsächlich hatte sie mir bereits so viel geholfen, dass ich in eine seltsame Lage geraten war. Es gab nichts, womit ich mich hätte revanchieren können, und Alices Verhalten ließ den Verdacht aufkommen, dass sie eine ganz bestimmte Art des Danks von mir erwartete. Ich rieb mir die Augen und gähnte zum Zeichen meiner Müdigkeit. Sie schulterte den Sack, zupfte ihr Höschen zurecht und ging mit hüpfenden Locken davon. Morgen. Morgen, wenn sie die Wäsche zurückbrachte, würde ich ein offenes Wort mit ihr sprechen.
    Im Kühlschrank lagen noch zwei Flaschen Bier. Ich öffnete eine, griff mir eine halb leere Tüte Chips und hängte mich vor die Glotze. Ob einem sechsjährigen Mädchen Gebärmutter und Eierstöcke entfernt werden sollen, da es, hirnlos, wie es ist, ja nichts vom Erwachsenwerden wisse, es den Eltern, die das Kind ja ein Leben lang würden herumtragen müssen, jedoch eine Erleichterung sei, wenn es nicht groß, nicht schwer, kurz, nicht zur Frau würde, sondern ein Leben lang ein Kleinkind bliebe. Vierzig Gutachter stimmen dem zu, das Mädchen bekommt Hormone, es wird immer ein süßes kleines Engelchen bleiben und die Gesellschaft nicht mit so etwas Unappetitlichem wie Monatsblutungen oder gar einem Sexualtrieb belästigen. Wo kippt Liebe in Macht?, fragte die Moderatorin und ob hier nicht ein soziales Problem technisch gelöst werde. Medizintechnisch. Das sei doch zum Wohl des Kindes, sagte der sachverständige Arzt, die Kollegen in den USA hätten das abgewogen,

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