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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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das Kind würde nie wissen, was mit ihm sei, es könne ein Leben lang nur auf dem Kissen liegen, lächeln und, wenns hoch kommt, die Hand ein wenig heben … Ich schaltete um und zu einer Geschichtsdokumentation, in der ein dicker Mann mit Brille einen Laufwagen vorführte, in den die Kinder des achtzehnten Jahrhunderts geschnallt wurden, um möglichst schnell das Laufen zu lernen.
    »Wieso im achtzehnten Jahrhundert?«, sagte ich zur Glotze und dachte an Alices Zwillinge, die, in ihren Plastikwagen hängend, auf Zehenspitzen durch die Wohnung rollten. Der Historiker führte weitere Gestelle mit Gurten vor, die die Kinder schnellstmöglich in die Vertikale bringen sollten, um ihnen das Krabbeln und den tierhaften Vierfüßlergang auszutreiben. Ich schaltete weiter und geriet in die Nachrichten. Die Welt ist schlecht. Ich schaltete aus und beschloss, morgen mit Alice zu schlafen. Zufrieden ging ich ins Bett.
    Ich stieg auf die Waage. 80,6 Kilogramm. Ich stieg ab. Ich stieg mit Lio wieder auf. 86,8 Kilogramm. Sie nahm zu. Ich wickelte einen Streifen Papier um ihren Kopf und markierte mit einer Reißkohle, dann maß ich den Umfang mit meinem Lineal nach. 50,3 Zentimeter. Er wuchs. Alles gut. Ich gab ihr die Milch, sie lachte und drehte ihr Schielauge noch weiter nach innen. Ich machte die CD von Astor Piazzolla an und sang, Lio weinte zur traurigen Musik oder weil ich so falsch sang. Ich machte die Tangomusik aus und stellte Cher an . The Shoop Shoop Song . Wir tanzten. Lio lachte. Als sie müde wurde, legte ich sie in den Korbwagen, duschte und rasierte mich, trank sehr starken Kaffee und setzte mich an die Arbeit. Inzwischen hatte ich mit der dritten Folge vom Gesichtslosen begonnen, er war mir ans Herz gewachsen; auch hatte ich endlich die alten Aufträge abgerechnet und abgelegt, Ordnung stellte sich ein, Routine und so etwas wie Normalität. Kurz dachte ich an Max und unsere früheren Kneipenbesuche. Als das Telefon klingelte, glaubte ich, es sei Alice, die die Wäsche fertig hatte, und freute mich, doch es meldete sich das Institut für Humangenetik der Universität, eine sehr freundliche Frau Widenmayer forderte mich im Auftrag des Professors auf, meine Tochter zur Untersuchung vorzustellen. Kein Entkommen. Übermorgen sollten wir uns um drei bei ihnen melden. Adresse. Anfahrtsweg. Schreck.
    Der Himmel war rosa und grau. Schwefelgelb die Luft. Alle Geräusche sehr laut, das Klappern der Kinder mit einem Plastikeimer im Hinterhof, das Martinshorn der Feuerwehr, Knattern eines Mopeds, ja selbst das Gespräch zweier Männer auf der Zinne des Hauses gegenüber war zu vernehmen, fast zu verstehen. Ich fühlte mich allein und sehr müde. Die ganze Stadt wartete auf ein Gewitter. Bevor wir unseren Termin hatten, versorgte ich Lio, dann machten wir uns auf den Weg.
    Silberne Fische blitzten in grünem Aquariumwasser, und Luft stieg in langen Perlenschnüren an die Oberfläche. Die Kleine saß mit rundem Rücken auf meinem Bein und tropfte auf den Boden. Ich füllte die Anmeldeformulare aus und dachte, es wäre ja auch nicht schlecht, einen Namen zu haben dafür. Es benennen zu können. Ein kleiner Junge mir gegenüber hatte seinen Kopf auf den Tisch gelagert und schob ein Spielzeugauto vor seinem Gesicht hin und her. Brr, brrrr, kleine Tropfen spritzten zwischen den flatternden Lippen hervor. Die Dame von der Anmeldung, es war nicht Frau Widenmayer, erschien in der Tür des Wartezimmers und rief Lios Namen in den Raum. Ich folgte ihr durch mehrere lange Gänge, bis wir in ein schlauchartiges Sprechzimmer kamen, in dem nicht mehr als ein Schreibtisch, zwei Stühle und ein Behandlungsbett mit Papierauflage Platz fanden. Wir warteten. Lio begann zu maunzen, ich fischte Flasche und Spritze aus meiner Tasche und flößte ihr Milch ein. Auf einmal erschien ein kleiner Mann mit haarkranzumwachsenem Schädel, an dem alles von unbestimmter Farbe war. Kiesfarbene Hosen, beigefarbener Pullover, weißliche Schuhe. Farblos wie seine Kleider war auch sein rundes Gesicht mit den hellen Augen darin, die uns freundlich betrachteten.
    War dies der zwanzigste oder der dreißigste Mensch, der die Königin entkleidete, betastete, abhörte und in ihre Öffnungen sah? Der sie nach hinten fallen ließ und sie, sobald sie sich am Nichts des leeren Raums festklammern wollte, blitzschnell wieder auffing? Der fünfundzwanzigste, schätzte ich. Irgendwann im Verlauf dieses Sommers hatte ich aufgehört zu zählen; hätte ich gewusst, wie viele diesem

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