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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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uns vorüberrasselte und brüllte, in die Schneeverwehungen und zerrte den Schlitten mit Lio zur Seite.
    An der Talstation löste ich die Karten und schnallte Lio vom Schlitten. Ein dunkelhäutiger Mann, Tamile oder Inder, warf Wolldecken auf die Sitze des Sessellifts, gab knappe Anweisungen, hängte den Schlitten hinter mir an den Lift. Wir schwebten schon zwanzig Meter über Grund, da drehte ich mich noch einmal um und sah die dunkle Gestalt da stehen und uns nachblicken, absurde Erscheinung in Pudelmütze, Fellweste und fransig abgeschnittenen Fingerhandschuhen. Oben nieselte der Schnee wie unten, ich hielt das Kind fest im Arm, riss den Schlitten aus der Halterung und schlug mir den Bügel gegen das Schienbein. Fluchend und um den Schmerz zu vergessen, machte ich mich schnell auf den Weg durch den Bergwald. Am Beginn der Piste schnallte ich den Fellsack mit dem Kind auf den Schlitten, setzte mich dahinter, wickelte den Schal um das Gesicht und warf die Beine nach vorn. Insektenhaft zog ich sie zurück, warf sie wieder nach vorn, zog und zog, und langsam nahmen wir Fahrt auf.
    Im Wald war es fast dunkel, und da schlang ich den Arm um mein Kind. Ich grub die Hacken in den Schnee, der Schlitten gehorchte und wendete sich nach rechts oder links in die Kurven. Schnee spritzte in mein Gesicht, ich warf den Kopf in den Nacken und sah das Gewirr schwarz glänzender Äste über mir davonsausen, dazwischen grauer Himmel, aus dem es schneite ohne Unterlass. Aus dem Fellsack stieg ein feiner Geruch nach Lios warmem Atem, ich spürte, wie der Schlitten immer schneller fuhr, der Weg steiler wurde und wir auf ihm hinabstürzten, das Gefährt sich nach vorn neigte, ich hackte die Absätze in den Schnee, um die rasende Fahrt abzubremsen, hörte das Knirschen nicht mehr, merkte, dass wir immer noch mehr beschleunigten, stemmte die Füße auf den Boden, wusste, dass wir über ein Eisfeld rasten, spürte, wie der Schlitten schneller und schneller wurde, zu drehen begann, wir rückwärts rutschten, weiterdrehten, auf den Rand der Piste zurutschten und in einer lang gezogenen Kurve durch den Drall weiter hinausgetrieben wurden, ich die Füße auf dem Eis und Lio fest an mich gepresst, als wir gegen eine Bretterwand prallten, weiterschossen, mir die Füße nach hinten gerissen wurden, wir schlingerten, kippten und stürzten. Endlich.
    Fallen, rutschen, wissen, es wird gleich vorbei sein. Schnee fressen, den Abhang hinunterrollen, gegen einen Stamm prallen.
    Stille, Kälte, Schneerieseln auf den Lippen. Liegen. Warm und weich. Die Füße nicht mehr spüren. Allein sein, wie schön.
    Zärtlich bedeckte der Schnee mein Gesicht. Ab und zu schüttelte ein Ast seine Last ab, manch einer knackte unter seiner Bürde. Dann herrschte wieder vollkommene Stille, und zum ersten Mal hörte ich das engelsgleiche Flüstern des fallenden Schnees, hörte die kleinen Jubelschreie, mit denen die ankommenden Flocken begrüßt wurden. Ich musste lachen. Der Winter ist eine Frau, sie wiegt mich in ihren Armen. I’d bear the heavy wind and rain that falls, I’ll never come back again, ’cos you know I laugh when winter shows her hand.
    »Ich liebe dich.«, sagte ich, und stöhnte. »Ich liebe dich, mein Kind.« Der Wald ächzte, kein Mensch antwortete. Ich war allein, es war dunkel, ich lag sehr still. Und da, in den spitzen Jubellauten, ins Rieseln und Flüstern der Schneeflocken hinein, hörte ich es. Ein leises Murmeln. Nicht ängstlich, nicht ärgerlich, nicht verzagt. Eine brabbelnde Stimme, wie ich sie so oft gehört hatte. Nachts, wenn ich schlief, und frühmorgens, wenn ich döste, tagsüber, während ich über meinen Zeichnungen weggesackt war. Freundliches Stammeln, wortloses Lallen, mit dem sich das Kind in mein Gehör und mir wieder ins Bewusstsein brachte. Ich setzte mich auf, und sah nicht weit von mir entfernt den dunklen Fellsack liegen, ich robbte hin und hörte aus der kleinen Öffnung die kleinen Geräusche, mit denen Lio mich daran erinnerte, dass wir zusammengehörten, dass sie da war. Und blieb. Ich zog den Sack an mich, umschlang ihn, steckte die Nase in das Loch aus Fell.
    »Weißt du, dass du riechst wie ein nasser Hund?« Ich lachte und wiegte sie, und auf einmal befiel mich Panik.
    »Hab keine Angst, ich bring dich da raus. Ich bring dich heil nach unten.« Langsam begann ich, auf allen vieren bergauf zu kriechen, klammerte mich an krüppelige Tannen und Kiefern, schob den Sack vor mir her, kroch weiter, erreichte nach einer

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