Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
langen Zeit, in der ich immer wieder zurückrutschte und fürchtete, ganz den Berghang hinabzufallen, die Rodelbahn, kletterte über die Absperrung und verschnaufte. Meine Füße waren kaum zu gebrauchen, ich hatte mir beide Knöchel verstaucht. Der Schlitten war weg. So entschloss ich mich, es mit der Jacke zu versuchen, zog sie aus und legte sie mit dem glitschigen Futter nach unten auf die Piste. Den Sack mit dem Kind an mich gedrückt, rutschte und robbte ich auf der Jacke langsam zu Tal. Der Tamile stapfte heimwärts, als wir unten ankamen. »He«, schrie ich, so laut ich konnte. »Hilfe!« Der Tamile blieb stehen. Ich riss mich zusammen und humpelte zu ihm hinüber. Er gab mir seine Fellweste und öffnete sein Kartenhäuschen, wo wir warteten, bis uns kurz darauf der Dorfarzt mit dem Geländewagen abholte. Er bandagierte mir die verstauchten Knöchel, gab mir Schmerzmittel und sagte, ich sollte das röntgen lassen, am besten gleich. Dann untersuchte er Lio, die warm war und gesund. Sie hatte Hunger und rote Bäckchen, und mit dem Schielauge lachte sie uns an.
15
Zurück in der Stadt, wurde ich bereits zum zweiten Besuch im Gruselkabinett aufgefordert. Der freundliche Professor mit dem Haarkranz über den Ohren begrüßte mich wie einen alten Bekannten. Lios Fall schien ihn besonders zu interessieren, er redete lange über seine Forschungen im Allgemeinen, über Deletionen, Mutationen und Aberrationen und über seine Kenntnisse dieser speziellen Form der Genveränderung im Besonderen. Lio war seit unserem ersten Besuch kräftiger geworden, lebhafter, ja, geradezu liebenswert, wie der Professor feststellte, und ich beargwöhnte seine Anteilnahme sofort als unwissenschaftlich. Kälte, Nüchternheit, fachliche Distanz waren es, die ich erwartete, und die ungewohnte Herzlichkeit des Spezialisten schwächte mich, obwohl sie vermutlich das Gegenteil zum Ziel hatte. Auf den Tannen vor dem Fenster lag eine dünne Schicht Schnee, und es dauerte lange, bis ich Lio aus den Kleidern geschält hatte. Die Untersuchungen, Reflextests und Vermessungen des Kindes unterschieden sich nicht von den vorhergegangenen, wieder wurde Blut gezapft, nun sollte auch mein Blut und das der Mutter untersucht werden. Ich murmelte »beruflich eingespannt, Auslandsreise« und machte den Arm frei. Zum Schluss wurde Lio wieder fotografiert.
Auch dieses Mal blieben die Gentests ohne eindeutigen Befund, die Deletion, die für das ACGT -Syndrom vermutet wurde, konnte nicht nachgewiesen werden, es blieb auch dieses Mal bei der Sichtdiagnose, die jedoch bei fortschreitendem Alter des Kindes und zunehmender Ausprägung der physiognomischen Merkmale immer sicherer werden würde. Man bat mich, die Proben und Unterlagen im Institut für Humangenetik archivieren zu dürfen für den Tag, an dem differenziertere Testmöglichkeiten zur Verfügung stünden, was ich gestattete, und eine Vollmacht zu unterschreiben, dass Lios Fall und die Bilder wissenschaftlich ausgewertet und gegebenenfalls publiziert werden dürften, was ich verweigerte. Mehr konnte ich nicht tun. Der Professor drückte mir zum Abschied die Hand und verwies mich an die Auskunft, wo ich Informationen zum weiteren Vorgehen erhalten würde.
So begann mein Marsch durch die Krüppelinstitutionen. Montags waren wir in der Physiotherapie, wo Lio gedreht und gewendet und auf einem Gymnastikball so lange gerüttelt wurde, bis sie ihren Schleim erbrach. Am Dienstag tauschten wir das Inhaliergerät der Lungenliga gegen ein leistungsfähigeres um. Am Mittwoch nahm der Drusenarzt die allgemeine Entwicklungskontrolle vor, wieder mit niederschmetternden Ergebnissen, am Donnerstag stellte ich Lio zur ergotherapeutischen Frühförderung vor, am Freitag besuchten wir die Kinderkrippe, wo man das Kind bedenklich ansah und auf das Recht verwies, den Aufnahmeantrag abzulehnen, sollte der Betreuungsaufwand zu groß sein. Am Samstag wollte ich zu meiner Großmutter fahren, kam aber nicht aus dem Bett. Vor dem Fenster tanzten die Schneeflocken, Lio sah mit grauen Augen in den grauen Himmel, aus dem der Schnee fiel, kein Griesel, sondern flächig ineinander verkantete Sterne, die wie Bettfedern taumelten.
Tag für Tag nahmen wir unsere Termine wahr, machten uns bereit, eilten zur Tramhaltestelle, stiegen ein, um, aus. Eilten durch die Stadt, immer in der Hülse aus Therapiestunden, Arztbesuchen, Behördenterminen, vor allem Alltagalltagalltagsarbeit. Rechnungen bezahlen, Formulare ausfüllen, Wäsche waschen,
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