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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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schlief. Ich klaubte den Strick aus dem Schnee und zog den Schlitten in die andere Richtung talwärts bis zum Bahnhof, drehte um und ging zurück. Unter den Lampen hing in funkelnden Kegeln der Schneeschleier. Ich hob den Blick und sah in den Nachthimmel, aus dem winzige Glutkristalle rieselten. Feuerwerk. Etwas war anders geworden, Abweichung von der Norm, und keiner, ich am allerwenigsten, kann ermessen, was das heißt. So beschloss ich, einen Tag um den anderen zu nehmen, als wäre nichts, als hätte sich nichts verändert. Zu der Abweichung hatte ich weder eine Meinung noch eine Empfindung. Ich ging einfach durch den Schnee, versuchte nicht nachzudenken und lauschte auf das Menschenwesen, das hinter mir dampfte und schnarchte.
    Als ich zur Pension zurückkam, saß auf meiner Mütze eine Haube aus Schnee wie ein schlechtes Omen. Ich muss mich einfinden, sagte ich mir. Ich muss dem Mädchen ein Vater sein. Und eine Mutter. Es gab viel zu lernen. Lernen, Vater zu sein, lernen, Mutter zu sein, lernen, in der Abweichung zu leben. Keine Ahnung, wie ich mich zurechtfinden würde, wie ich es schaffen sollte, Tag für Tag. Weitermachen, nicht nachdenken. Wenn ich nicht bis zum nächsten Tag denken konnte, dann bis zur nächsten Stunde. Wenn nicht bis zur nächsten Stunde, dann bis zur nächsten Viertelstunde. Nichts überlegen, nichts grübeln, nichts bezweifeln, vor allem: nichts bereuen. Es ist, wie es ist. Und es ist gemein. Dysmorphiesyndrom. Denken hilft nicht. Reden hilft nicht. Nicht einmal Zeichnen hilft. Ich muss es einfach tun, Viertelstunde für Viertelstunde, Tag für Tag. Füttern, trösten, pflegen. Das Kind nähren und warm halten. Es wiegen, es streicheln, mit ihm reden. War das genug? Gut genug? Meine Aufmerksamkeit weitete sich aus in einen unbekannten Kontinent. Äußerste Vorsicht, angespannte Achtsamkeit. Was bedeutet was? Wimmern, weinen, schluchzen, heulen, greinen, blöken, blubbern, kreischen. Was steht für Müdigkeit, für Hunger, für Freude, für Überdruss? Wiederholung und Differenzierung: Immer wieder kommen ähnliche Geräusche aus dem zahnlosen Kindermund, und ich unterscheide: das Weinen des Hungers vom Wimmern im Traum, das Schreien aus Schmerz vom Stöhnen im Fieber, das Lachen aus Freude vom Glucksen des Wiedererkennens, das Murren der Langeweile vom Greinen der Unzufriedenheit. Zunächst breitete sich meine Wahrnehmung aus, dann dehnten sich mein Empfinden und mein ganzes Selbst aus, auf den schutzlosen Kinderkörper, das hilflose Wesen, das ohne mich nichts war und werden konnte. Bald wusste ich, noch bevor sie Laut gab, dass sie gewickelt werden musste, dass sie fror oder eine Flasche brauchte. Auch dass sie würde erbrechen müssen, dass sich eine Absence ankündigte oder ein Krampfanfall, die immer häufiger kamen. Ich bereitete das Badewasser zu und den Zusatz fürs Inhaliergerät, ich maß Tropfen ab und hantierte mit der Magensonde, ich massierte die Blähungen weg und betupfte die geschwollenen Zahnleisten mit kühlendem Gel. Mein Gehör verfeinerte sich, mein Schlaf wurde leichter, meine Unbekümmertheit löste sich Viertelstunde für Viertelstunde in unserem Alltag auf wie die grünen Tropfen Medizin, die im Wassertank der Inhalierpumpe schleierten, bevor sie unter dem pumpenden Brummen des Motors zur Dampfsäule wurden, die durch den gerippten Schlauch und die winzige Plastikmaske in Lios Körper verschwanden.
    Postkartenblau der Himmel, ein Gämsbock hoch oben im schroffen Fels. Sechs endlose Tage und Nächte hatte es geschneit, dann hörte es so plötzlich auf, wie es begonnen hatte, und ich beschloss, mit Lio rodeln zu gehen. Ich zog den Schlitten, ging schnell. Unter meinen Schuhen lösten sich kleine Schneebrocken, rollten, sich zu Bällen formend, den Hang hinunter, zeichneten in stolpernder Jagd, hüpfend und einander überkreuzend, ein Strichmuster in die weiße Fläche. Hasen, Vögel, anderes Getier hatten ihre Spuren in den Schnee gedrückt, aus dem die schwarzen Tannen ragten. Vor mir gleißten die schneeigen Rundungen der Felsen und Hänge. Der Winter ist eine Frau. Sie bleckt die Eiszapfenzähne. Sie sagt, es verliert immer der, der zu wenig liebt. Ich blinzelte in die Sonne, ich warf die Arme in die Luft. Ich wanderte lang, und bis ich zur Talstation kam, hatte der Himmel sich zugezogen. Kein Mensch war zu sehen, nur eine Schneefräse rollte mir rot blinkend, röhrend und dröhnend entgegen, spie kalte Fontänen in den Straßengraben, ich sprang, als sie an

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