Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Gänge in den Supermarkt, Essen kochen, Fläschchen zubereiten, Geschirr abwaschen, Wohnung putzen, das Kind baden, wickeln, anziehen, ausziehen, umziehen und wieder umziehen, Schleim absaugen, Dampf inhalieren, Medikamente verabreichen. Der Alltag hielt uns umschlossen wie ein Kokon die Larve. Wir konnten uns nicht bewegen, mussten aber auch nichts denken, was sage ich »wir«. Lio dachte nicht, sie existierte. Sie war. Und ich versorgte sie. Tag und Nacht, Woche für Woche, Monat für Monat.
Kaum ein Ereignis, das diesen Trott unterbrach. Mit dem Kind auf dem Schoß fuhr ich in der Straßenbahn zu einem der Krüppeltermine, Lio klammerte sich an die Chromstahlstange vor uns und lutschte daran, um die vom Zahnen wunden Kiefer am Metall zu kühlen. Die Mütze war ihr über die Augen gerutscht, am Nasenloch pulste eine Rotzblase. Ich schaute aus dem Fenster auf das kalte Pflaster des Paradeplatzes, übersät von hastenden, trippelnden, wartenden Krähenmenschen. Männer in dunklen Mänteln, mit glänzendem Schuhwerk, dunklen Aktenmappen oder Sporttaschen für den Feierabendbesuch im Fitnessstudio. Die wenigen Frauen trugen hochgestecktes Haar und blasse Lippen über blass gemusterten Seidenfoulards über dunklen Mänteln, im abgewinkelten Arm eine scharfkantige Handtasche, in der sie mit manikürten Fingern kramten, während sie mit sicherem Tritt über die Schienen stöckelten, um in eine andere Linie umzusteigen.
Im Schaufenster einer Galerie ragte eine Zigarre von der Länge eines dreisitzigen Sofas steil auf, eine unbekleidete Frauenpuppe ritt sie in Pin-up-Pose, den Kopf mit dem blondierten Haar in den Nacken geworfen, weiß leuchteten die Zähne im halb geöffneten Mund, und die gestreckten Arme pressten ihre nackten Brüste zusammen. Leises Quietschen von Lios Zahnleisten auf der Metallstange. Winterluft strömte in den Wagen, bevor die Türen sich klappernd schlossen und wir weiterfuhren zu irgendeiner Fördermaßnahme. Der Glaskasten holperte am Seeufer entlang, erreichte die Quaibrücke, blieb wegen einer Ampel stehen. Die Mitreisenden sahen ins Nichts oder verstohlen nach dem Kind. Es sabberte und rotzte vor sich hin. Dunkles Seewasser platschte an die Ufermauern, weiße Schaumstreifen wackelten darauf. Lio wurde unzufrieden und wand sich in meinen Händen um zu entkommen. Ich hielt sie fester und schaute mit zusammengebissenen Zähnen aufs Wasser. Wie aus einem Aquarium schaute ich auf die schwarze, schäumende Fläche und stellte mir die Fische vor in der tintigen Tiefe des Sees. Der Kasten ratterte auf den Bellevueplatz, wo noch mehr dunkle Mützen und Mäntel warteten. Ich hatte den Drang aufzuspringen und wie ein Tier im Käfig auf- und abzulaufen. Stattdessen beobachtete ich die blicklosen Kontakte, das zielstrebige Herumtasten, Sichnähern, Vortritterzwingen und Aneinandervorbeischieben, diese ganze Choreografie der Gereiztheit, der unterdrückten Wut zu eng gehaltener Großstadtmenschen, diese Panik vor dem Anonymitätsverlust, vor der Begegnung mit dem anderen. Ich sprang auf und schleppte das Kind gegen den Strom der Einsteigenden zur Tür, stieg aus und lief ins Seefeld, wo die Therapeutin ihre Praxis hatte. Vor mir schlurfte ein junger Mensch, der eine riesige blaugelbe Gummitasche über der Schulter trug, auf der in roten Lettern das Wortbruchstück etal stand – fetal unterscheidet sich von letal nur durch die Spazierstockbiegung der Oberlänge und den kaum wahrnehmbaren Dorn in der Mitte des Aufstrichs, je nach Schriftart nur ein winziger Haken, der dem kleinen f aus dem Bauch ragt. Der Aufstrich verwandelt jedes Schriftbild, unregelmäßige Reihung von Senkrechten, in einen Strichcode.
Als eine Vier vorfuhr, stieg ich aufatmend in den kaum besetzten hinteren Wagen. Lio lutschte am Metallrohr. Wenig später die Durchsage unserer Haltestelle, dann ein kalter Luftschwall. Ich schlang meinen Arm um das Kind und stieg aus. Kopf voran hing es mir auf der Hüfte, wie der Querstrich im kleinen f.
Lio machte vor einer kleinen Staffelei ungerichtete Bewegungen mit dem Pinsel auf dem Papier, ich saß unterdessen in der hintersten Ecke eines Cafés, sah mir die Frauen an und skizzierte sie. Genau genommen interessierte ich mich nur für eine. Sie wurde Serviertochter genannt und ging, ganz in schwarz mit einer langen dunkelroten Bistroschürze um die Hüften, schwingend zwischen den Tischen hindurch, hielt sich das Silbertablett mit beiden Händen auf den Rücken und lächelte herausfordernd. Das
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