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Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)

Titel: Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Rothmaier
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Schlitten gürtete. Meine Sachen zog ich alle an, da sie nicht mehr in den Koffer passten. Bergschuhe, Schneehosen, Wollmütze, Faserpulli, Skiunterwäsche, Wollsocken, Handschuhe, ich schwitzte wie ein Pferd und atmete erleichtert auf, als wir in Bergün aus der Rhätischen Bahn stiegen und uns auf die Suche nach einer Pension machten.
    Der Schnee fiel ohne Unterlass in einem leichten, aber dichten Schleier vom Himmel und deckte alles zu. Zuerst verschluckte er alles mit seinem Weiß, rundete die scharfen Kanten ab, weichte die klaren Linien auf und milderte die Kontraste je nach Lichteinfall in die verschiedensten Grautöne, in Grau-auf-Weiß-Zeichnungen und alle Schattierungen von Weiß. Er nahm den Gegenständen ihr Eigenleben, dann ihre Eindeutigkeit, dann ihre Identität. Ein Auto, ein Container, ein Briefkasten, ein Busch, eine Hecke, ein vergessener Gartenstuhl, alle waren sie zu denselben formlosen Körpern geworden und unterschieden sich nur noch durch ihre Größe. Hütten wurden zu Ausbuchtungen der Hügel, auf denen sie standen, Holzstöße zu weißen Würfeln mit gerundeten Kanten, Tannen zu Zelten und Wege zu sanften Rinnen, die sich in der amorphen bleichen Masse verloren, zu der die Landschaft geworden war. Im grauen Tageslicht war der Schleier des fallenden Schnees durchsichtig und harmlos zart; dann ein glitzernder Funkenregen im orangefarbenen Licht der Straßenlampen, eine silberne Staubwolke vor dem Dunkel des Nachthimmels. Es schneite pausenlos. Tagsüber, wenn ich am Fenster stand, und nachts, wenn ich, nachdem Lio eingeschlafen war, vor dem Haus noch eine Zigarette rauchte. Wir steckten fest. Die Schneemassen hielten uns im Zimmer fest, auf zehn Quadratmetern, vollgestellt mit Koffer, Zeichenmaterialien und den Gerätschaften für die Pflege der Kleinen. Die engen Bergwände, die das Dorf umstellten, erweiterten sich zuerst durch die Helligkeit des Schnees, dann wuchsen sie mit der steigenden Schneemasse, vergrößerten sich und schienen mit jeder Stunde näher an das Dorf heranzurücken. Sie verschluckten alle Sicht und jeden Laut. Ich war stillgelegt. Im Bett lauschte ich auf die Lebenszeichen des alten Holzes, mit dem das Zimmer getäfelt war, auf das Ächzen der Balken und Dielenböden, das Huschen, Krabbeln und Knistern unbekannter Lebewesen und uralter Seelen, die die Gedanken, Seufzer und wenigen Worte der stillen Bewohner früherer Zeiten ausplauderten. Es gab nichts zu tun. Lio war schnell versorgt, es gab nichts zu zeichnen, das Weiß um mich herum deckte auch die Bilder in mir zu, das Auge fand keinen Halt, mein Kopf war leer. Schlittenfahren, Schneewandern – nichts war möglich, solange es weiterschneite und die Wege nicht geräumt waren. Jeden Morgen, Mittag und Abend setzte ich das Kind in den Fellsack und zog es auf dem Schlitten die wenigen Hundert Meter vom einen Ende des Dorfs ans andere.
    Ich stapfte gebeugt. Hielt den Strick hinter meinem Rücken, die Hände hatte ich durch die Schlinge gesteckt, um den Schlitten nicht versehentlich loszulassen. Die Straße führte bergauf, links und rechts gingen kurze, enge Quergassen ab, manche von ihnen waren vom Schnee geräumt, diesen folgte ich, drehte um, kehrte auf die Hauptstraße zurück, stapfte bergauf, bis zum Ende des Dorfes, wo sie, im Winter für den Verkehr gesperrt, zur Schlittenbahn wurde. Normalerweise. Doch auch die Schlittenbahn war mittlerweile schenkeltief verschneit. Der Albula unpassierbar. Wenig Gäste jetzt, Mitte November, noch weniger Einheimische. Alles schlief. Hinter mir auf dem Schlitten steckte das Kind im Fellsack. Es war tief hineingerutscht, die Öffnung bis auf ein faustgroßes Loch geschlossen. Am Ende der Straße wendete ich den Schlitten und begann den Rückweg. Das Gefälle beschleunigte die Fahrt des kleinen Gefährts, es sauste an mir vorbei, zerrte an meinem Arm, ich wand die Hand aus der Schlaufe und ließ das Seil fahren. Der Schlitten schoss die steile Straße hinab, auf dem Fellsack lagerte eine dicke Schneeschicht, und aus der kleinen Öffnung dampfte der helle Kinderatem. Lio fuhr schlafend, führerlos durch den orangefarbenen Winterabend die Dorfstraße hinunter, bekam einen seitlichen Drall, steuerte im spitzen Winkel auf eine Hauswand zu, ich rannte ihrem Gefährt nach, schlitterte und rutschte, bis ich einen der Holmen packen und den Schlitten zum Stehen bringen konnte. Gespannt brachte ich das Ohr an das Atemloch und hörte es gurgeln und schnaufen, rasseln und schnarchen. Lio

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