Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Nacken und drückte die Schultern nach hinten. Splitternd brach der Panzer, und wie ein Feuerstrahl lief ein langer Riss die Wirbelsäule hinab. Ich schraubte den Rapidographen wieder zu, löschte die Leuchtröhren über dem Zeichenbrett und legte mich in Pullover und Trainingshosen ins Bett.
7. November 1993.
Betr. LEUTENEGGER, LIOBA MARIE, geb. 1.4.1993
Sehr geehrter Herr Kollege,
im Folgenden fasse ich den Inhalt unseres Gesprächs vom 12. August 1993 und meine Eindrücke sowie die Resultate der genetischen Untersuchung für Sie zusammen.
Lioba ist das erste Kind, geboren in der 41+2 Schwangerschaftswoche bei Polyhydramnion. Die Geburtsmaße waren normal. Nach der Geburt trat aber Trinkschwäche auf, und es fielen einige Dysmorphien auf, deshalb Zuweisung.
BEFUNDE : Niedrige Stirn mit Hypertrichose und Haarwirbelbildung, nach außen ansteigende Lidachsen, auffällige Nase mit breiten Alae nasi, kleines Kinn, Einwärtsschielen, relativ große dysmorphe Ohren mit Haarbüscheln an der Helix, hoher Gaumen, Haarbüschel im Steißbereich, kurze breite Daumen, eher breite Großzehen. Länge und Gewicht im Normbereich, Kopfumfang unterhalb der dritten Perzentile. Die Daumen sind in den Metacarpophalangeal-Gelenken dorsal subluxierbar. Aufgrund der Befunde wurde an ein ACGT -Syndrom gedacht, und es wurden entsprechende Abklärungen (Chromosomenuntersuchung, FISH -Untersuchung mittels spezifischen ACGT -Proben) eingefädelt. Dazu zweimalige Blutentnahme. Sämtliche Untersuchungen erbrachten normale Resultate, auch und insbesondere die FISH -Untersuchungen.
BEURTEILUNG : Dysmorphien liegen vor, eine Klassifikation in ein Syndrom ist zurzeit schwierig und nicht mit Sicherheit möglich. Der typische Gesichtsaspekt des ACGT -Syndroms wird erst in späteren Lebensjahren manifest, die Befunde im Bereich der Daumen und Großzehen sind variabel und lassen an sich keine eindeutige Zuordnung zu. Die Tatsache, dass die ACGT -Proben keine Deletion ergeben haben, schließt das Syndrom aber erst zu 20 % aus.
Der klinische Verlauf sollte beobachtet werden und je nach Notwendigkeit und Wunsch eine weitere Konsultation in etwa einem Jahr stattfinden.
Weiterer Kinderwunsch besteht nicht, weshalb das Problem des Wiederholungsrisikos derzeit im Hintergrund steht.
Für weitere Fragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Bereits am Morgen hatte sich eine dünne Schneedecke auf die Bäume und Autos, die Dächer und Bürgersteige gelegt. Nass glänzte die Straße, und die Reifen der unermüdlich durch die Stadt rollenden Autos und Laster schmatzten und zischten über den Asphalt. Die Zeitung auf den Treppenstufen vor der Haustür war vom Schneegriesel durchfeuchtet, und ein kalter Wind trieb winzige nasse Flocken vor sich her. Er brachte den staubigen Geruch des neuen Winters, durchzogen vom Rauch der Holzofenfeuer und den Abgasen der Benzinmotoren. Mittags hatte ich die Kopie des Schreibens der Humangenetik an den Drusenarzt gefunden und augenblicklich beschlossen zu verreisen. Ich wollte mit Lio in den Schnee. Paule würde nicht zurückkommen, heute nicht und morgen nicht. Etwas in mir war sich gewiss, dass sie ihre Gründe hatte, nicht wieder aufzutauchen, und dass ich dagegen nicht ankäme, selbst wenn ich sie fände. Nicht mit Worten und nicht mit dem Kind auf dem Arm. Niemand würde uns vermissen, und wir würden nichts verpassen da oben, in einem der verschneiten Bergdörfer, die leer und verschlafen auf Wintergäste warteten.
Im Keller fand ich meinen alten Davoser Schlitten und sogar den hölzernen Aufsatz für Kleinkinder, den man darauf festschrauben konnte. Alice lieh mir einen Fellsack und einen Daunenanzug mit Kapuze, dazu Fellschühchen und Fäustlinge für die Kleine. Ich stapfte mit Lio in der Rückentrage auf dem Weg zum Bahnhof in den Supermarkt, besorgte Windeln, Milchpulver, Feuchttücher, Zinksalbe und aus der Apotheke die Tropfen, die sie zum Inhalieren brauchte. Mittlerweile konnte sie zwar aus der Flasche trinken und wir waren die Magensonde los, doch erbrach sie nach der Mahlzeit die Milch wieder, und wir hatten einen enormen, geldfressenden Verbrauch an Milchpulver. Dagegen sollten das Inhaliergerät und die Tropfen helfen, die den zähflüssigen Schleim in Lios Hals verflüssigten. Dreimal täglich saßen wir vor dem dröhnenden Gerät, das ich mit dem » Mäskeli«, all dem anderen Kleinkindkram und meinem Zeichenzeug in einen großen Rollkoffer gepackt hatte, worauf ich den
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