Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
wollte herein. Er steckte seinen Spazierstock zwischen die Türen und wollte die Haltestange packen, um einzusteigen, doch die Türen klappten zu, er konnte noch eben rechtzeitig die Hand zurückziehen, und nun steckte der Stock fest. Da sprang eine Frau auf und drückte den Halteknopf, damit sie sich wieder öffneten und der Alte das Trittbrett erklimmen konnte. Er hatte die Hilfe der Frau nicht bemerkt und steuerte jetzt direkt auf sie zu, wobei er mit dem Stock in ihre Richtung stocherte, um sie von ihrem Platz zu vertreiben, der mit dem Kreuzzeichen für Invalide gekennzeichnet war. Mit einem Ruck fuhr die Straßenbahn los, der Alte erhielt einen Stoß und wäre nach hinten gefallen, wäre die Frau nicht aufgesprungen und hätte ihm ein zweites Mal beigestanden. Murrend und ohne sie eines Blickes zu würdigen, setzte er sich auf den eingeforderten Platz und starrte aus dem Fenster.
Auch ein Guppyfisch, dachte ich und sah mir die Frau an, die sich an die Tür gestellt hatte. Sie war groß, möglicherweise sogar größer als ich, trug einen maisfarbenen Trenchcoat und über der Schulter eine Umhängetasche aus Kuhfell. Ihre nackten Füße steckten in braunen Schnürschuhen, und das braune Haar in exakt demselben Ton hatte sie im Nacken mit einem schlichten Gummi zusammengebunden. Sie musste es schnell und ohne Bürste gemacht haben, denn am Kopf wellten sich Strähnen und auf dem Rücken spreizten sich die Haare in alle Richtungen. Sie schien nicht nur größer als ich, sondern auch älter und trug an der linken Hand, mit der sie sich an der Stange festhielt, einen schmalen Goldring. Das zusammengebundene Haar ließ nur die Ohrläppchen frei, auf denen goldene Perlen glänzten. Sie war braun von der Sonne, ihre Nase nahm gegen ihr Ende hin einen leichten Schwung nach oben, und darüber lagen wie dunkle Flügel die Brauen. Braun, fast schwarz, schätzte ich. Ihre Augen mussten die Farbe von Kaffeebohnen haben. Jetzt erst bemerkte ich, dass unter dem Trench keine weiteren Kleidungsstücke zu sehen waren, nur die braune Haut ihrer Handgelenke und Beine. Sofort kam ich auf Gedanken und stellte sie mir nackt vor, was mich mit dem Kind auf dem Schoß in Bedrängnis brachte. Lio musste auf den Platz am Fenster, wo sie begann, an der Gummiabdichtung des Fensters zu schlecken. Die Frau stieg aus und lächelte ihr zu, als sie vorbeiging. Ich schlug die Schöße der Jacke übereinander und lächelte zurück, aber sie bemerkte mich nicht. Sie hatte tatsächlich dunkle Augen, und sie war sehr schön. Und sie war verheiratet. ›Grund, aber kein Hindernis‹, hätte Max gesagt und sich frischfröhlich an die Frau rangemacht. Ich hingegen saß hier mit dem Krüppelkind neben mir, einem Halbsteifen in der Hose und elf Franken fünf in der Tasche. Wütend zog ich Lio von der Scheibe weg und stierte, als sie zu greinen anfing, auf der anderen Seite aus dem Fenster.
Das tropfende Geburtstagskind saß vor den Aquarien und versuchte, den bunten Fischen mit den Augen zu folgen. Ich machte ein Foto von Lios Spiegelbild, als eine Muräne sich durch ihr Gesicht wand, das war der Tag, an dem sie ein Jahr alt wurde. Ihm folgten kühle April- und verregnete Maiwochen, bevor der Sommer plötzlich kam und der Bescheid der Versicherung, dass bei Lio keine › Hilflosigkeit‹ vorliege, die bei einem Kind ohne › Geburtsgebrechen‹ nicht im selben Maße zu beobachten sei. Sprich, aus dem Aufwand an Pflege und Versorgung erwuchs kein Anspruch auf eine › Entschädigung‹. Ich fragte mich, von wessen Hilflosigkeit die Rede war. Lio erschien mir tatsächlich weniger hilflos, als ich selbst es war. Würde an ihr die Hilflosigkeit geprüft, und sollte ich dafür entschädigt werden? Und könnte eine Hilflosigkeit wie die unsrige, sollte sie einmal von Amts wegen bescheinigt werden, mit Geld entschädigt werden? Wie viel war sie wert? Wäre sie mit monatlichen Zahlungen zu kompensieren, zu ändern gar? Geld würde ja die Zumutungen des Alltags und die Bemerkungen der Wohlmeinenden aus dem Normbereich des menschlichen Lebens nicht ungeschehen machen oder verhindern. Es würde auch Paule nicht zurückbringen. Und nicht meine Zukunft. Die Unbeschwertheit. Ich verwünschte das Kind. Ich verwünschte das Schicksal, das mir dieses hilflose Wesen vor die Füße gespült hatte. Ich hatte mich nicht dafür entschieden. Hätte ich es entscheiden können? Nachts, wenn ich im Bett mit den Armen unterm Kopf an die Zimmerdecke sah, dachte ich, ich hätte eine
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