Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Währenddessen ging die Frau mit dem Kind in der Wohnung umher, die andere kam zurück, und gemeinsam durchstreiften sie die Räume. Sie murmelten und schrieben Kürzel in ein Formular. Später sah ich, dass es Zahlenwerte zwischen eins und sechs waren. Schulnoten für meine Bewältigungsanstrengungen in Vaterschaft und Leben. Ich wollte die beiden wieder in die Küche führen, da fielen mir der versiffte Fußboden, die Geschirrstapel in und die leeren Bierflaschen unter der Spüle ein, und ich bat sie auf das Sofa im Wohnzimmer. Lio schlief über ihrer zweiten Flasche ein, ich bettete sie in den Korbwagen und deckte sie zu, während die beiden mich beobachteten. Die Runde, die ihre Regenjacke geöffnet hatte, unter der sie einen zitronengelben Plüschpullover trug, führte das Wort, während die Magere kritzelte und schrieb. Das fragte sie: ob Lio einen Löffel halten könne, ob sie das Fläschchen selbst halten könne, ob sie frei sitzen, krabbeln, gar stehen könne, ob sie spräche, wenn ja, welche Worte, ob eine Verständigung möglich sei, ob sie schlafe, wie lange am Tag, in der Nacht, ob sie Hilfsmittel brauche, Medikamente regelmäßig einnehme, Therapiegeräte benutze, welche Förderangebote sie besuche und ob es dafür ärztliche Verordnungen gebe. Ich antwortete wahrheitsgemäß, wunderte mich jedoch über das Unwissen der beiden, welche Entwicklungsschritte ein Kind von vierzehn Monaten gemacht haben konnte und welche nicht. Die beiden ließen sich Zeit, kritzelten und huschten, blätterten und beobachteten. Hin und wieder sahen sie einander an, sagten etwas mit halblauter Stimme, blätterten in dem vielseitigen Formular und fragten ungerührt weiter. Eineinhalb Stunden später lehnte ich mich aufatmend an die Tür, nachdem ich die Formulare unterschrieben und die beiden verabschiedet hatte. Ihre Kreppsohlenschuhe quietschten leise die Treppen hinab, verstummten, bis schließlich nach einem langen Moment der Stille die Eingangstür zuschlug. Erst jetzt wich meine Erstarrung, ich löste mich von der Tür und drehte den Schlüssel im Schloss.
Im Bad stellte ich mich unters heiße Wasser. Erst als der ganze Raum mit Dampf gefüllt war und ich meine Zehen nur noch erahnen konnte, drehte ich das kalte Wasser an, ließ es auf Kopf und Schultern prasseln und zählte langsam bis fünfzig, bevor ich schaudernd aus der Wanne stieg. Der Kaffee war alle, das Brot war alle, im Kühlschrank stand ein Konservenglas mit trüber Flüssigkeit, in der eine einsame Essiggurke dümpelte, daneben lag eine Kartoffel, der dickliche Sprossen aus der schrumpligen Schale wuchsen. Schnell rannte ich zurück ins Bad, schäumte Kinn und Hals ein und rasierte mich hastig. Mir war nicht klar, warum ich so hetzte, bemerkte es erst, als ich mir in den Adamsapfel schnitt und eine dünne Blutspur durch den weißen Schaum lief und im Brusthaar versickerte. Ich drückte Klopapier gegen den Schnitt und spritzte Rasierwasser hinterher. Es brannte höllisch und blutete noch mehr. Noch mal Klopapier und in die Kleider. T-Shirt, ungebügeltes Hemd, ein Paar zerknitterte Jeans, Lederjacke. So musste es gehen. Skizzenblock und Bleistift. Im Portemonnaie fand ich noch fünfzehn Franken und fünfundachtzig Rappen. Vier achtzig würde die Tramfahrt kosten, blieben noch elf fünf. Ich lief hin und her, öffnete Schubladen, wühlte herum, schüttelte meine alten Klamotten aus, kramte in Mantel- und Jackentaschen, sah unter das Sofa, hinter den Schrank, sogar in die Ritzen der Bodendielen. Am Ende war ich um einen Franken dreißig reicher. Immerhin. Es würde für Säuglingsmilch und die Tramfahrt reichen. Windeln waren noch da, und ich würde von einer halben Packung Suppennudeln, ein paar Beuteln Schwarztee und einem halb vollen Glas Himbeermarmelade leben, das ich noch in einem der Küchenschränke gefunden hatte. Zigaretten. Ich würde schnorren müssen oder Kippen sammeln. So weit war ich noch nicht. Also schnorren. Oder zu Fuß gehen? Ich beschloss, die Entscheidung auf später zu verschieben und demnächst mit dem Rauchen aufzuhören.
Ein feiner Sprühregen fiel, als ich mit Lio zur Tramhaltestelle ging. Der Glaskasten rumpelte heran, und Lio begann, kaum dass wir saßen, an der Stange zu lutschen, während ich aus dem Aquarium nach den Frauen schaute. Wie ein Guppyfisch glotzte ich in den Regentag. Die Frauen versteckten sich unter Schirmen und in Mänteln, Jacken, Trenchcoats. Am Bezirksgebäude stiegen Schulkinder aus, und ein sehr alter Mann
Weitere Kostenlose Bücher