Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
Wahl haben können – vorausgesetzt, es hätte Diagnoseinstrumente gegeben. Doch die gab es nicht. Gibt es heute noch nicht. Weder an der ungeborenen noch an der fröhlich herumbalgenden Lio konnte etwas festgestellt werden. Nicht mit dem Kriterienkatalog der Kreppsohlenfrauen und nicht mit den Untersuchungen und FISH -Tests der Humangenetiker. Wir waren uns ja auch einig gewesen, dass wir die Tests am ungeborenen Kind auf seine Elternwunscherfüllungskompetenz nicht machen wollten. Wenns uns trifft, dann triffts uns, hatten wir gelacht. Paule hatte den Pakt gebrochen und die Tests dann doch machen lassen. Ich aber hatte mit der Kleinen gelebt und fühlte mich befugt, mich gegen sie zu entscheiden, auch wenn sie eine kleine Lio war, die tropfte und lallte, lächelte und mir ihr Kartonbüchlein entgegen streckte, die sich den Objektivdeckel der Spiegelreflex kamera vors Schielauge drückte, um mich zu fotografieren. Was mich zu einer Entscheidung befähigte, machte sie mir gleichzeitig unmöglich. Mit dem zusätzlichen Aufwand, der Differenz zum Leben mit irgendeinem anderen, wie sie sagten, gesunden Kind, war, ohne dass ich es bemerkt hätte, Liebe in mein Leben gekommen. Ich liebte das Kind. Ich lebte gern mit ihm. Deshalb. Die Abweichung war nur im Kopf, dachte ich und schob das Kind weiter zum Affenhaus.
Das rote Licht blinkte, Maxens gepresste Stimme auf dem Anrufbeantworter lud uns zum Abendessen ein. Regula und er würden sich freuen. Regula, die Lio ja noch nicht kenne, freue sich ganz besonders. Schaurig. Nächsten Freitag um sieben. Ob das passe, ich solle mich melden und ja, Lio unbedingt mitbringen, das ging schon, sie hätten es sich genau überlegt. Ich drückte Stop, noch bevor er zum Ende gekommen war, und schälte Lio aus der Jacke, wobei ich zu heftig vorging, sodass sie die Arme und Beine durchstreckte. Ich hielt sie, bis sie wieder weich und beweglich geworden war, dann badete und fütterte ich sie, nahm das Telefon, wählte Maxens Nummer, legte aber wieder auf.
Am Schreibtisch öffnete ich zuerst den Projektordner, sah meine Arbeitsrapporte durch und schrieb vier Rechnungen für abgeschlossene Aufträge. Lio schlief, und ich brachte schnell die Briefe weg. Jetzt. Ich rief Max an und sagte zu. Lio würde ich im Kinderwagen mitnehmen, wo sie schlafen konnte, falls es später würde. Max war einen Augenblick still, und ich fragte, ob ich etwas mitbringen solle, worauf er versicherte, das sei keinesfalls nötig, was im Klartext bedeutete, eine Flasche Wein oder ein Dessert wurde mindestens erwartet, und mich in fieberhafte Überlegungen stürzte, wovon ich das Gastgeschenk bezahlen sollte, und ich beschloss, ein paar Sachen zu akquirieren. Nie mehr wollte ich in eine solche Klemme kommen. Ausgerechnet hier, wo das Geld auf der Straße liegt.
Bis Freitag waren es noch vier Tage. Mit Lio auf dem Arm ging ich ins Erdgeschoss und klingelte bei Alice. Paul, ihr Ältester, ein schlaksiger Junge mit strubbeligem Haar, öffnete. Von seinem orangefarbenen Kapuzenshirt grinste mich ein pinkfarbener Eierkopf an, dem giftgrüne Tentakeln aus dem Kopf wucherten. Auf seiner Baseballkappe stand in eckigen Buchstaben ONLY THE BRAVE, und an seinen Schläfen leuchteten ein paar entzündete Pickel. Einer der Zwillinge hockte auf seinem Arm und lachte mich mit zwei Milchzähnen an. Alice war weg, aber ich könne warten. Paul schob sich den Schild der Baseballkappe in den Nacken. Auf schwankenden Beinen stand der andere Zwilling im Zimmer und hielt sich am Couchtisch fest, auf dem Louisa, »Hi, Konny«, ihre Hausaufgaben machte. Im Fernsehen lief Spongebob, und überall lagen Comics rum.
»Deine?«, fragte ich und blätterte sie durch. Spirou, Leutnant Blueberry, Mangas. Er zuckte mit den Schultern.
»Zeichnest du auch?« Er lächelte verlegen und zog einen Schnuller aus der Tasche seiner übergroßen Jeans, deren Hosenboden fast auf Kniehöhe hing, schleckte ihn ab und schob ihn dem Kleinen auf seinem Arm in den Mund. Sofort sanken dessen Lider auf halbmast, kurz darauf legte Paul ihn schlafen und nahm den zweiten hoch.
»Zeigst du mir mal deine Sachen?« Wieder zuckte er mit den Schultern.
»Na komm, ich zeig dir, was ich so mache, und wenn du magst, dann bringst du dein Zeug mit hoch und wir schauen es uns an.«
Die Tür ging auf, und Alice kam regennass und mit zwei vollen Einkaufstaschen nach Hause. Sie starrte mich an.
»Welche Ehre. Long time no see.« Sie verschwand im Bad und kam mit einem Handtuch
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