Atmen, bis die Flut kommt: Roman (German Edition)
wieder. Während sie die Haare rieb, fragte sie, was ich wolle, und ich musste es sagen. Vor den Kindern.
»Hör mal, kannst du mir mit hundert Franken bis nächste Woche über die Runden helfen?«
»Klar«, sie zog die Geldbörse und klappte sie auf. »Oh, sieh an. Kein Geld mehr …«
Ich sah auf meine Schuhe und war froh, dass Lio sich auf meinem Arm bog um runterzukommen, so musste ich Alice nicht in die Augen sehen.
»Sorry«, murmelte ich. Wie konnte ich nur so dumm sein. Sie hatte doch selbst kaum was.
»Moment, ich hab eine Idee. Paul! Paul, wo bist du?«
Der Junge kam aus dem Zimmer der Zwillinge. Er sah sauer aus.
»Schscht. Sie sind grad eingeschlafen.« Alice achtete nicht darauf.
»Du kannst doch Konrad was von deinem Geburtstagsgeld leihen. Brauchst es ja eh grad nicht.«
Paul wand sich.
»Lass mal, Alice, ist schon gut.« Ich wandte mich zum Gehen.
»Nein, nein, kein Problem, das macht er gerne, stimmts Paul?«
Paul trottete in sein Zimmer und kam mit einem Briefumschlag wieder, dem er eine Hunderternote entnahm. Ich schämte mich in Grund und Boden.
»Lass stecken, Paul. Ist nicht so wichtig.«
Ich klaubte die robbende Lio vom Boden. Als ich im Treppenhaus stand, kam er mir nach.
»Konrad, warte«, und als ich ihn ansah, streckte er mir den blauen Schein hin. »Nimm, ich brauch es gerade wirklich nicht. Kannst ihn mir ja irgendwann wiedergeben.« Er stockte. »Ich will mir einen Computer kaufen.«
»Danke, Paul. In zwei Wochen kriegst du ihn zurück.« Er nickte.
»Und bring mir deine Zeichnungen, ich will sie mir gern ansehen.« Jetzt lief ein schmales Lächeln über sein Gesicht, und ich freute mich.
18
Anderntags schien die Sonne, und es wurde sehr heiß. Zuerst genoss ich es, saß mit der Kleinen im Park, wo die Lindenbäume blühten, und freute mich, dass wir nicht mehr verregnet wurden auf unseren Wegen durch die Stadt und dass es ausreichte, ihr ein Hemd und ein Höschen über der Windel anzuziehen und einen viel zu großen Hut aus Alices unerschöpflichen Kinderkleiderkisten über den viel zu kleinen, schwarz behaarten Kopf zu stülpen. So setzte ich Lio in den Buggy und stieß ihn vor mir her den Bürgersteig entlang. Er rollte mit Schlagseite auf den Straßenrand zu, rollte über die Kante und blieb mit einem Rad im Rinnstein vornübergeneigt hängen. Lio gluckerte. Braves Mädchen. Oft schlief sie, und wenn sie weinte, dann so leise, dass ich, vorausgesetzt, die Tür war geschlossen, sie nicht hörte – Notwehr, seitdem sie begonnen hatte, nicht nur im Nebenzimmer, sondern in meinem Kopf zu wimmern und zu greinen.
Max und Regula wohnten in einem Wohnkomplex an der Ausfallstraße zur Autobahn. Mit dem Fahrstuhl kamen wir in den dreizehnten Stock. Bereits im Flur roch es nach geschmortem Fleisch, Kräutern und Knoblauch. Regula öffnete in einem ärmellosen Kleid, das mit psychedelischem Muster, grellfarbenen, ineinander verschlungenen Ovalen, bedruckt war. Sie trug das blonde Haar aufgesteckt, und auf dem Knoten thronte eine orangefarbene Kunstblume. An den Füßen hatte sie Sandalen mit so dünnen Riemen und so hohen Absätzen, dass ich mich fragte, wie sie damit überhaupt gehen konnte.
»Konraaad«, sie tänzelte auf mich zu und reckte sich in die Höhe, um die Luft neben meinen Ohren zu küssen. Ich überreichte die Flasche, sie war aus dem Supermarkt, und den Nelkenstrauß.
»Wein ist für dich, Blumen sind für Max, eine Einladung, wieder mal mit mir in den Friedhof zu gehen«, sagte ich in ihr verdutztes Gesicht. Sie lachte ein wenig gequält und verschwand mit den Gastgeschenken in der Küche. Zehn Stufen führten in den Wohnraum hinab, die kleinen Plastikräder von Lios Karre schrappten über die Kanten, worauf Max herbeieilte, den Bügel packte und sie mit mir an den Esstisch trug. Damit ich die Kleine im Auge haben könne, wie Regula aus der Küche erläuterte.
Und ihr mich, dachte ich böse.
»Das Parkett habe ich gerade neu versiegelt«, murmelte Max, als hätte er das eigenhändig gemacht, und neigte den Oberkörper in meine Richtung, umarmte mich, beklopfte meinen Rücken.
»Schön, dass ihr da seid. Was trinkst du, Weißen?«
Die Wohnung war wie die Gastgeberin im Stil der Siebziger ausgestattet, man speiste am weißen Tulpentisch mit passenden Stühlen, im Türrahmen zur Küche hing ein brauner Makrameeschnurvorhang, in den türkisfarbene Perlen eingeflochten waren, die Gläser waren bunt, und unter den Tellern lagen ovale, mit Prilblumen bedruckte
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